Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt
Dienstag, 18. Oktober 2016
Die Welt im Rücken
Ob Goethes Egmont ebenfalls an einer polaren Störung litt weiß ich nicht. Doch das Zitat daraus „Himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt“ passt auf manisch-depressive Menschen meiner Meinung nach ganz gut. Thomas Melle leidet an einer solchen bipolaren Störung.
In seinem Buch „Die Welt im Rücken“ beschreibt er sein Leben mit dieser psychischen Krankheit. Bisher hat er drei Schübe der manisch-depressiven Phasen durchgemacht. Den ersten während des Studiums 1999, den zweiten 2006 nachdem die ersten Berufserfolge zu verzeichnen waren. Der dritte Schub begann 2010. Melle beschreibt diese Zustände in seinem Buch chronologisch.
Melle führt nicht nur die Wirkung der Krankheit auf ihn aus, sondern auch die Informationen zur Krankheit selbst. Er beschäftigt sich im Buch auch mit dem Gesetz mit den Möglichkeiten Kranke weg zu sperren oder sie einfach „frei“ leben zu lassen. Auch die rechtlichen Möglichkeiten werden kurz erwähnt.
Er zeigt, was während der manischen und der depressiven Phasen in ihm vorgeht. Er analysiert die Folgen, die diese Krankheit auf sein ganzes Leben hat. Melle sieht sich nicht in der Lage eine in Anführungszeichen „normale Beziehung“ zu beginnen oder eine Familie zu gründen.
Manie
Die manischen Phasen nahmen immer stark paranoide Züge an. Auch die Religion spielte immer wieder eine Rolle. In einer Phase sah sich als eine Art Messias an, in einer anderen sah er „angeblich Tote“, die irgendwo auf ihre Auferstehung warteten. Oder waren sie gar nicht tot, sondern nur in einer Art Wartezustand? Die dritte manische Phase beginnt mit einem Zwiegespräch mit Gott. Er fühlt sich beobachtet. Von Gott. Und das als Atheist.
Die Beschreibungen der manischen Phasen nehmen im Buch mehr Raum ein. Wahrscheinlich weil es da einfach viel mehr zu erzählen gibt. Und viel mehr Leute bei denen er sich dafür entschuldigen muss. Freunde versuchten immer wieder ihn in geschlossene Anstalt unterzubringen doch wenn keine Gefährdung für ihn selbst und andere vorliegt kann er sich gegen ärztlichen Rat selbst wieder entlassen was auch immer wieder tut. Denn in der manischen Phase weiß ist der Kranke nicht wie ihm geschieht. Alles hektisch alles ist schnell und so ist auch der Schreibstil dieser Phasen.
Depression
Anders die Beschreibung der Depression. Die Zeit steht quasi still. Es wird dunkel, dunkler, am dunkelsten und es geht immer noch dunkler. Selbstmordversuche werden durchgeführt. Melle widerspricht der verbreiteten Auffassung, dass nicht erfolgreiche Selbstmorde nur appellativen Charakter haben. Das Leben hat in dieser Phase keinerlei Sinn mehr, es herrscht nur noch Schmerz und Dunkelheit. Da erscheint der Tod als gute Lösung. Es ist schrecklich zu lesen wie er ein Kabel an einem Heizkörper befestigt und sich dort immer wieder aufhängt aber immer nur ein wenig, und dann ein wenig mehr. Ein wenig grinsen musste ich schon, dass ausgerechnet ein Song von ABBA einmal das Leben rettete.
Musik
Überhaupt ist das Buch voller Musik. Voller Ohrwürmer, so dass ich viel gesummt und gesungen habe. Musik hat bei Melle einen sehr hohen Stellenwert. Fast so hoch wie der der Literatur. Aber nur fast. Er bedauert noch heute den Verlust seiner großen Bibliothek (nd auch der CD- und Plattensammlung) die er sich in den ersten 30 Jahren seines Lebens zusammengestellt hat. Und in einer manischen Phase hat er alles verkauft, weggeschmissen und verschenkt.
Etwas im Rücken haben
So erklärt Melle am Schluss, dass er früher eine Bibliothek im Rücken hatte. Heute hat er die Welt im Rücken. Er hofft inständig dass keine weitere manische Phase mehr kommt, nimmt jetzt brav seine Tabletten und hat sich mit diesem Buch versucht die Krankheit vom Leib zu schreiben. Ob dies erfolgreich ist bleibt abzuwarten. Heilung gibt es von dieser Krankheit leider nicht. Interessant ist in dem Zusammenhang auch eine Statistik der Sterblichkeitsraten von Menschen die an bipolaren Störungen leiden. Einfach erschreckend. Zumal auch ich im Bekanntenkreis einen Todesfall zu betrauen habe.
Richtig nachvollziehen kann ich die Phasen dieser Krankheiten immer noch nicht, trotz dieses Buches. Doch das ist wahrscheinlich Anzeichen meiner eigenen geistigen Gesundheit. Wenn ich noch einmal denke ich hätte eine deprimierende Phase werde ich an die Beschreibung der Depression von Thomas Melle denken. Dann wird es mir sicher wieder besser gehen. Das hört sich zynisch an, aber das was ich an Traurigkeit erlebe ist nicht zu vergleichen mit dem was diese Kranken durchmachen.
Genie und Wahnsinn
Das Genie und Wahnsinn nah beieinander wohnen bemerkt schon Aristoteles (laut Seneca). Noch so ein Spruch. Auch diesen Mythos nimmt Melle in seinem Buch auf. Viele bekannte Persönlichkeiten waren manisch-depressiv. Silvia Plath zählte sicher auch dazu. Es gibt offizielle Studien darüber, dass der Prozentsatz bestimmter psychischer Störungen bei sogenannten Genies höher sei als beim Rest der Menschheit. Melle bezeichnet sich im Buch nicht als Genie, aber seine Bücher wären ohne diese Krankheit nicht so wie sie sind. Ich frage mich ob Melle ohne diese Krankheit überhaupt Autor geworden wäre. Seine Krankheit ist in alle seine Bücher mit eingegangen. Er hofft durch dieses Buch die Krankheit ausgeschrieben zu haben. Und in weiteren Büchern einen anderen Fokus legen zu können. Ich werde 3000 € noch mal lesen und zwar ist mit einem ganz anderen Gesichtspunkt. Auch Sickster und Raumforderungen werde ich mir besorgen und Teile seiner bisherigen Leidensgeschichte dort wiederfinden.
Geld
Die manischen Phasen haben ihn auch finanziell sehr belastet, den entstandenen Schuldenberg zahlt er immer noch ab. Ohne Helfer hätte er die Hoffnung aufgegeben.
Das Buch gibt nicht nur einen Einblick in die Krankheit sondern auch einen Einblick in das Leben eines Schriftstellers in Deutschland. Von Stipendien von Vorschüssen von Hartz IV ist immer wieder die Rede. Melle schreibt nicht nur eigene Bücher, sondern ist auch erfolgreich als Übersetzer und Theaterautor tätig. Wie er dies alles erschaffen konnte mit dieser Krankheit im Rücken ist mir unbegreiflich.
Lesung
So gerne ich den Autor noch persönlich bei einer Lesung kennen lernen würde, ich keine Lesung von Thomas Melle besuchen. Das käme mir vor wie Voyeurismus. Im Buch selbst steht wie schwer es ihm fällt Lesungen abzuhalten. Preisverleihungen beizuwohnen. Reden zu halten und diese Ängste werden immer schlimmer. Ich möchte keinen Anteil daran haben ihn diesen Ängsten aussetzen. Lieber lese ich schon vorhandene Interviews. Und seine Bücher.
Fazit
Melle beschreibt seine Krankheit und die Auswirkung schonungslos offen. Schonungslos gegenüber sich selbst und auch seiner Umwelt. Dabei empfand ich das Buch nicht als Anklage, weder gegen seine Freunde seine Verwandten noch gegen die Gesellschaft. Es ist eher eine Entschuldigung an alle, die er vor den Kopf gestoßen hat. Und auch ein Dank an diejenigen, die ihm geholfen haben. Ohne sie wäre er nicht mehr am Leben.
Sprachlich sehr eloquent wurde mir hier ein sehr persönlicher Einblick in das Leben mit einer unheilbaren Krankheit geboten, die einen lebenslangen Drahtseilakt bedeutet.
Informationen zum Buch
Die Welt im Rücken
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-87134-170-0
352 Seiten
[D] 19,95 €, gebundene Ausgabe
Eine wunderschöne Rezension die Du da geschrieben hast. Das literarische Quartett hätte sich davon eine gewaltige Ecke abschneiden können. Diese Krankheit so zu beschreiben, dass man es einigermaßen nachvollziehen kann muss unendlich Kraft kosten aber vielleicht auch Kraft spenden. Eine gute Freundin hat auch diese Höhen und Tiefen und wer sich damit mal auseinander gesetzt hat kann ein klitzekleines bisschen ‚verstehen‘.
Ein wirklich gelungener Beitrag den Du hier gemacht hast. Danke dafür.
Liebe Grüße und eine schöne Lesezeit für Dich
Kasin
Vielen Dank.
Ich kenne allerdings auch Stimmen über dieses Buch, die die Beschreibungen, vor allem der Tiefen, nicht so treffend fanden. Doch ich denke Depressionen empfinden alle betroffene auf eine ganz individuelle Art.
Großartig geschrieben Rezension. Ich werde mir das Buch direkr merken bzw. es auf die Wunschliste setzen.
Gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen sind die meisten Bücher nämlich leider Murks, weil sie meist von Menschen geschrieben werden, die damit selbst noch nie in Berührung kamen. Ein Betroffener jedoch weiß worüber er da schreibt. Sehr interessant.
Vielen Dank für deine Meinung.
Liebe Grüße Ina
Guten Morgen,
ich liebe deine Rezension zu diesem Buch. Ich selbst habe große Probleme, mich in Menschen, die solche Krankheiten haben hinein zu versetzen, das muss ich zugeben. Vielleicht kann man es auch einfach nicht wirklich nachvollziehen, wie es denjenigen geht, wenn sie in der einen oder der anderen Phase ist, wenn man das selbst nie erlebt hat und hoffentlich auch nie erleben wird. Ich denke, dass das Buch einem das vielleicht ein bisschen näher bringen kann. Es wirkt in deiner Rezension zumindest so.
Ich werde es mir mal merken.
LG und Danke dafür
Yvonne
hergefunden über das #litnetzwerk
Hallo Yvonne,
Vielen Dank für die Blumen. Mir hat das Buch viel Stoff zum Nachdenken gegeben.
Grüße
Silvia
Huhu,
wow, ein tolle Rezi über ein anscheinend sehr berührendes Thema.
Liebe Grüße
Elena
Danke, liebe Elena. Und ja, das Buch hat mich berührt. Aber nicht im weinerlichen Sinn, sondern im nachdenklichen.
Liebe Grüße
Silvia