Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
Sonntag, 13. November 2022
Zeitreise in die 1980iger
Das literarische Debüt von Daniela Dröscher, „Lügen über meine Mutter“ ist sehr autobiografisch und beschreibt eindringlich die Kindheit von „Ela“ und das Verhältnis ihrer Eltern. Die Perspektive des Kindes spielt Anfang der 1980iger Jahre, dazwischen kommen kurze Gedankenspiele der Autorin aus heutiger Sicht.
Die Mutter
Elas Mutter ist taff, zupackend, voller Ideen, bienenfleißig, eine liebevolle Mutter und sehr familienverbunden. Sie ist aber auch eine Fremde im eigenen Haus, unterdrückte Ehefrau, depressiv und übergewichtig. Vor allem der letzte Punkt ist ein ewiger Streitpunkt in der Ehe. Ihr Mann klagt darüber, keine Frau „zum Vorzeigen“ zu haben. Ihm scheint es weniger um die inneren Werte eines Menschen zu gehen.
Allerdings ist sie ja nicht immer dick gewesen. Doch der Druck, die Depression und eine andere schwere Krankheit machen es ihr nicht leicht ein gesundes Gewicht zu halten. Obwohl sie sich manchmal zu sehr restriktiven Maßnahmen drängen lässt.
Sie hat aber auch niemanden, der ihr hilft, sie wirklich unterstützt. Ihre eigenen Eltern sind der Meinung, dass sie bei ihrem Mann bleiben sollte. Eine enge Freundin hat sie nicht. In die Dorfgemeinschaft, in der ihr Mann aufgewachsen ist, kommt sie nicht rein. Sie bleibt dort die Fremde.
Ich fragte mich immer: das spielt in den 80igern, da waren Scheidungen doch an der Tagesordnung. Warum ging sie diesen Schritt nicht? Finanzielle Gründe kann es kaum haben, da ihr werter Gatte „sein“ verdientes Geld nur für sich und seine Hobbys ausgibt. Sie ist es, die den Familienalltag finanziert. Und später, als sie Geld erbt, nicht nur das.
Doch ganz am Ende des Buches kommt sie aus heutiger Sicht zu Wort
Wenn ich jemals eine Autobiographie schreiben sollte, müsste sie den Titel >Zu< tragen. >Zu arm<, >zu krank<, >zu dick< oder >zu schwach<. Mein ganzes Leben lang ist immer irgendetwas an mir zu wenig gewesen. Oder zu viel.
Was für eine traurige Bilanz einer Frau, die so häufig einen sehr starken Eindruck bei mir hinterlassen hat.
Der Vater
Latent aggressiv. Die Familie hält immer erstmal den Atem an, wenn er nach Hause kommt: wie fällt seine Laune aus? Geht man ihm besser aus dem Weg?
Nach außen aber sehr leutselig und lebensfroh. Er engagiert sich später im neuen Tennisclub (Boris Becker Fieber), versteht sich besonders mit einer Frau dort sehr gut. Zu gut.
Er hat sich vom einfachen Bauerssohn in eine gute Existenz hinaufgearbeitet. Doch wenn etwas nicht klappt, sucht er die Schuld nie bei sich. Wenn er einen Sündenbock sucht, zum Beispiel wegen einer nicht erfolgten Beförderung, schaut er erst mal auf seine Frau. Sie ist an allem schuld was nicht gut läuft.
Er nimmt alles von ihr, gibt aber nie etwas zurück. Selbst, als sie mal vor Gericht steht, unterstützt er sie nicht.
Mir war nicht ganz klar, ob er seine Kinder liebt, oder doch nur sich selbst.
Ela
Die Tochter ist am Beginn des Buches kurz vor der Grundschulzeit. Also ein Kind. Trotzdem muss sie viel Verantwortung übernehmen. Sie glaubt häufig, dass es ihre Verantwortung ist alles zusammenzuhalten. Immer wieder wird sie zu einer Geheimnisträgerin gemacht. Eine Verantwortung, der sie nicht gewachsen ist.
Als das Übergewicht der Mutter sehr stark wird, fällt es Ela auch schwer sich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Doch liebt sie die Mutter über alles, will aber einfach nur eine heile Familie und eine unbeschwerte Kindheit.
Vieles von dem, was zwischen ihren Eltern vorfällt, begreift sie erst später, als sie älter ist. Manches auch erst als Erwachsene. Manchmal bekomme ich auch den Eindruck, dass einfach zu wenig mit ihr gesprochen wird, zu wenig erklärt wird. Das führt auch zu lustigen Szenen. Zum Beispiel als die kleine Schwester geboren wurde. Und diese, wie ein normaler Säugling, zerknautscht und in Elas Augen hässlich ist. Sehr gerne hätte sie die Kleine zurückgegeben.
1980iger
Für mich war der Roman eine Zeitreise. Ich bin zwar zehn Jahre älter als Ela und war zur beschriebenen Zeit in einer ganz anderen Lebensphase, trotzdem begegnete mir in diesem Buch viel Bekanntes. Zum Beispiel Süßigkeiten und sonstige Konsumgüter, die damals ganz hoch im Kurs standen. Das Tennisfieber als Boris Becker und Steffi Graf groß rauskamen. Gesellschaftsspiele, die ich auch gespielt habe (wie habe ich auch Mix Max geliebt!). Der kalte Krieg, der im Hintergrund lauerte, Tschernobyl und die Angst vor dem Fallout. Die Explosion der Challenger und Zweitausendeins, der legendäre Verlag mit eigenen Buchhandlungen. Musik und Filme, die ich auch gehört und gesehen habe werden erwähnt und brachten viele Erinnerungen in mir auf.
Erinnerungen
Aber nicht nur das. Auch mit anderen Dingen, persönlicheren Dingen konnte ich mich identifizieren. Auch die Familie meines Vaters kam aus Schlesien, allerdings früher als Elas Großeltern. Doch das im Buch viel erwähnte rollende „r“ kannte ich nur zu gut.
Eine Szene versinnbildlichte, dass man mit Essen nicht spielt. Auch da habe ich eine eigene Erinnerung. Eine „Suppe“ die wir als Kindergruppe aus allem was wir in der Küche fanden zusammengerührt haben, mussten wir alle probieren. Als Lektion (verdient), damit wir Lebensmittel zu schätzen lernten.
Schläge mit dem Kochlöffel bekam ich zwar nicht, aber bei einer Schulfreundin war das üblich, das Ding hatte sogar einen Namen, Jonny, entsetzlich fand ich das.
Elas Mutter bekam auch schon mal nicht zu kontrollierende Wutanfälle. Das kenne ich auch, aber leider passierte das mir schon mal, nicht meiner Mutter. Das waren unkontrollierbare, aber auch unentschuldbare Stressreaktionen.
Daniela Dröscher
Dröscher hat ein sehr persönliches Buch geschrieben. In kurzen Einschüben aus heutiger Zeit ergänzt sie ihre Sicht auf die Vergangenheit aus der zeitlichen Entfernung. Darin skizziert sie das Verhältnis zur Mutter und auch die Versuche mit ihr zu reden und die Beweggründe zu verstehen. Immer wieder fragt sie nach einem „Warum“. Trotzdem handelt es sich hier um einen Roman. Doch was ist das wohl für ein Gefühl, so über die eigene Kindheit zu schreiben?
Oder muss sie einfach darüber schreiben um die Geschehnisse verarbeiten zu können?
Auch dazu schreibt sie etwas im Buch:
Vielleicht stimmt es gar nicht, dass mich dieses familiäre Kammerspiel nicht loslässt, weil ich Schriftstellerin geworden bin. Vielleicht muss ich den Satz umdrehen. Vielleicht habe ich überhaupt nur angefangen zu schrieben, weil ich als Teil dieses Kammerspiels aufgewachsen bin.
Später schreibt sie noch
Ich habe das Schreiben gewählt, weil es die bestmögliche Form ist, das menschliche Herz zu erkunden.
Daniela Dröscher dachte auch darüber nach, ob sie durch ihre Bücher die Mutter ausbeutet. Sie holte sich für dieses Buch eine Erlaubnis von ihr.
Fazit
Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher hat mich zurück in meine eigene Vergangenheit katapultiert. Einige Szenen gingen mir so nah, dass ich das Buch weglegen musste. Die Ohnmacht der Mutter, die zerrüttete Familie haben mich sehr berührt. Ein Roman, der mich auch mein eigenes Leben hinterfragen ließ. Ganz am Ende gab es noch eine Szene, die ich als unheimlich wichtig für alle Partnerschaften empfinde. Die Mutter fordert den Vater auf nachzudenken. Auf seine Frage worüber antwortet sie „Darüber, ob du mich so akzeptierst, wie ich bin, oder nicht.“
Gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung sind für mich die Säulen jeder Beziehung. Eine wichtige Botschaft dieses Romans.
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