Der Verdacht
Donnerstag, 14. Mai 2015
Mal wieder einen Klassiker lesen!
Bärlach (aus der Richter und sein Henker bekannt) liegt im Krankenhaus.
Er hat Krebs. Es ist sehr ernst.
Sein Arzt und Freund Hungertobel eröffnet ihm, das er etwa noch ein Jahr zu leben hat.
Deshalb wird er auch direkt pensioniert. Ein Umstand, den er äußerlich mit Fassung trägt:
Man lasse die großen Schurken laufen und stecke die kleinen ein.
Trotzdem kann man den Kommissär in ihm nicht einfach abstellen.
Hungertobel glaubt im Foto eines brutalen KZ-Arztes einen Kollegen zu erkennen: Dr. Emmenberger, der jetzt, in der Nachkriegszeit, in Zürich eine lukrative Privatklinik leitet.
Doch das kann nicht sein: Emmenberger war zu der Zeit, als das Foto entstand, in Chile.
Bärlach hat angebissen. Er aktiviert alte Freunde, wie zum Beispiel Gulliver. Ein Jude, der mehrere Konzentrationslager überlebte, für tot erklärt wurde und seitdem im Untergrund lebt. Dieser Gulliver musste eine sehr beeindruckende Erscheinung gewesen sein:
So saß nun in der Mitternacht dieser riesenhafte Ahasver bei ihm, dem alten Kommissär, der da todkrank in seinem Bette lag und den Worten des jammervollen Mannes lauschte, den die Geschichte unserer Epoche zu einem düsteren, furchterregenden Todesengel geschaffen hatte.
Gulliver hat sehr viel hinter sich. So hat er den bewussten KZ-Arzt auch selbst gesehen. Jetzt ist sein Lebensziel, die damaligen Verbrecher aufzuspüren und der Bestrafung zuzuführen, oder im Notfall auch selbst zu strafen.
In der Nacht, in der er Bärlach besucht, kommen viele grausame Erinnerungen hoch:
…bei Ostwind wurde gehängt, und bei Südwind hetzte man die Hunde auf Juda.
Auf wenigen Seiten werden durch kurze Beschreibungen die Gräuel eines KZs verdeutlicht. Einen besonderen Hass scheint Gulliver auf Lagerärzte zu haben. Er nennt sie
Schmeißfliegen, die sich mit wissenschaftlichem Eifer dem Massenmord hingaben…
Sein Vision:
Mein Gott, Kommissar, laß uns kämpfen, daß die Freiheit für alle das gleiche wird, daß sich keiner vor dem anderen für seine Freiheit zu schämen hat!
Ein weiterer Verbündeter, der bei der Prüfung des Verdachts gegen Emmenberger helfen soll, ist der erfolglose Schriftsteller Fortschig. Obwohl diese Bezeichnung diesem nicht gefallen hätte. Er nennt sich selbst Wortsteller:
…ich stelle Worte auf, nicht Schriften!
So bastelt Bärlach an seiner Falle für Emmenberger und begibt sich auf eine riskante Reise:
um Emmenberger näher zu überprüfen lässt sich Bärlach in dessen Privatklinik überführen.
Auf dem Weg dorthin erfasst ihn erstmals die Resignation wegen seiner Erkrankung:
Zum erstenmal seit seiner Krankheit kam sich Bärlach als einer vor, dessen Zeit vorbei war, der die Schlacht mit dem Tode, diese unabänderliche Schlacht, verloren hatte.
Und später:
Ihm wurde kalt. Die Kälte des Weltalls, diese nur von ferne erahnte, große, steinige Kälte senkte sich auf ihn; die flüchtige Spur eine Sekunde lang, eine Ewigkeit lang.
Dieses Wortspiel mit der Zeit ist ein schöner Vorgriff auf den später folgenden Showdown. Auf einer älteren ausgabe des Buches habe ich ein Bild von einer Uhr gesehen, die auf fünf Minuten vor Sieben steht. Wesentlich passender als das Bild der jetzigen Ausgabe.
Der Aufenthalt in der Klinik ist sehr riskant, Emmentalers Spezialität sind Operationen ohne Narkose.
Er fürchtete sich und schämte sich nicht, es zu gestehen.
Bärlach ist sich des Risikos also durchaus bewusst und hat sich nicht wegen einer geheimen Todessehnsucht in der Klinik eingeschlichen.
Eine interessante Protagonistin muss ich noch erwähnen: Dr. Marlok. Sie wird als Emmenbergers Assistentin eingeführt. Bärlach ist (zu Recht) misstrauisch. Allerdings aus den falschen Gründen:
Als Berner waren ihm >>studierte<< Frauen unheimlich.
Diese Dr. Marlok kommt nur in einigen wenigen Szenen vor. Doch ihr im Buch skizziertes Leben wäre einen eigenen Roman wert.
Der Höhepunkt des Romans sind die Diskussionen zwischen Arzt und Opfer, während sie auf einen OP-Termin warten. Emmenberger erweckt den Anschein, dass er jeden Sadismus lassen würde, wenn ihm einige Fragen beantwortet werden. So ist auch der Glauben ein Thema in diesem schwierigen Gespräch:
…ich glaube an eine Materie…die keinen Gott braucht. Und ich glaube, daß ich bin, als ein Teil dieser Materie, Atom, Kraft, Masse, Molekül wie Sie, und daß mir meine Existenz das Recht gibt, zu tun, was ich will.
In diesem Zusammenhang antwortet Emmenberger auf das „Warum“ seiner Taten:
…denn wenn ich einen anderen Menschen töte…werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick. Aber was für ein Augenblick…in diesem zitternden, ohnmächtigen, weißen Fleisch unter meinem Messer spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts außerdem.
Spannende Abrechnung mit einem Arzt, der seinen Sadismus an Unschuldigen auslebt.
Warum wurde dieses Buch eigentlich nicht verfilmt? Es bietet so viele tolle Figuren und Bilder!
Es lohnt sich, ab und an mal einen Blick in die Schullektüren zu werfen!
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Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht, Roman, detebe 21436, ISBN 978-3-257-21436-9, 128 Seiten, € (D) 8.90