Die Schuld der Anderen
Dienstag, 3. März 2015
Dieses Buch wird als Kriminalroman geführt.
Das finde ich nicht ganz zutreffend.
Ja, es wird ein Mord und nebenbei auch einige andere Straftaten aufgeklärt, aber ich würde es eher als kritischen Gesellschaftsroman bezeichnen, der aber auch mit einer gehörigen Portion Spannung daher kommt.
Zum Buch:
Marc Rappaport ist Journalist. Und reicher Erbe. Er sitzt deshalb auch im Vorstand eines Wirtschaftskonzerns. Er ist also finanziell unabhängig, hat sich aber für eine eigene, unabhängige Laufbahn entschieden. Sein Chef Pierre ist gleichzeitig ein guter Freund.
Da wird der Mord an einer jungen Prostituierten durch einen DNA-Abgleich scheinbar aufgeklärt. Dieser Mord liegt 27 Jahre zurück, aber Marc interessiert sich für diese Geschichte.
Er geht ihr nach und stößt in einer französischen Kleinstadt auf einen schockierenden Gesundheitsskandal. Viele Arbeiter einer Chemiefabrik erkrankten an Nierenkrebs. Auch der Vater der jungen Frau starb daran. Doch wie hängt alles zusammen?
Marc versucht die Mißstände aufzudecken.
Immer wenn ich meinte, jetzt weiß ich, worum es geht, wurden neue Facetten und Hintergründe aufgedeckt. So ein wenig wie bei diesen russischen Holzpuppen.
Französische Verhältnisse
so wird der Klappentext eingeleitet. Und das passt. Das Buch ist sehr französisch. Paris, die Provinz, die Strukturen, das Essen, die Frauen und Männer.
So ganz nebenbei schafft es die Autorin auch, auf viele gesellschaftliche Missstände in Frankreich und Europa hinzuweisen. Die Hauptperson Marc ist auch ein sehr vielschichtiger Mensch. Engagiert, intelligent, frei und doch auch ein Produkt seiner Erziehung, bei der mehrere Parteien in verschiedene Richtungen zogen.
Zitate
„was die Mächtigen und Reichen … von sozialer Gerechtigkeit verstanden: gar nichts“
Ein Satz zum Antisemitismus aus der Sicht von Juden:
Dazu musste man am eigenen Leib erfahren haben, wie es war, zu denen zu gehören, denen alles jederzeit weggenommen werden konnte.
Ein erschreckender Satz, der einem Polizisten in den Mund gelegt wird:
Seit wann kann man Nutten vergewaltigen
Ein paar Sätze über Jugendkriminalität und Aufstände in Marseille:
Hatte Gewaltbereitschaft etwas mit der Hautfarbe zu tun? Mit der Religion? Nein! Der Nationalität? Nein! Mit dem sozialen Umfeld und der familiären Situation? Sicherlich. Aber nicht nur.
Aber diese Generation protestierte nicht, wollte nichts, suchte nichts, denn sie hatte die Gewissheit, dass sich keiner für sie interessierte, schon längst geschluckt und verdaut.
…selbst diese Entwurzelten, die dachten, das alternde Europa sei dem Niedergang geweiht, gaben sich mit ihrem selbstgebastelten Islam letztendlich nur ein Gefühl von Bedeutung.
Nochmal: „Die Schuld der anderen“ einen Krimi zu nennen, wird diesem Spiegel der Gesellschaft nicht gerecht.
Für mich ein anspruchsvoller, spannender Roman, der mich durch seine Wendungen und ausgefeilte Struktur sehr positiv überrascht hat. Die anderen Romane der Autorin wandern direkt auf meine Wunschliste.
Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen, Berlin Verlag, ISBN: 978-3-8270-1227-2, 496 Seiten, als Hardcover € 22,99
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