Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder
Sonntag, 13. Dezember 2020
Rezension Debütroman
Ein kleines Dorf irgendwo hinter einem Berg. Eltern, die weggehen, um Geld zu verdienen. Alle Kinder bleiben zurück. So gut wie auf sich allein gestellt. Das bringt eine unheimliche Gruppendynamik hervor. Aber auch Außenseiter. Die Großeltern sind auch da. Doch diese werden bald nicht mehr als Kümmerer, sondern eher als Ballast angesehen.
Doch die Kinder verbindet ein unerschütterliches Wir-Gefühl.
Wir
Die Perspektiven im Buch wechseln. Doch die stärkste Stimme ist das „Wir“. Die Kinder bilden eine Einheit. Sie bewegen sich oft wie ein Fischschwarm. Doch im Gegensatz zu den Fischen reißt das Fehlen eines der Kinder eine spürbare Lücke:
Wir waren 19 Kinder. Seit ein paar Tagen fehlt uns eines und wir suchen zwischen uns nach seiner Stimme.
Seite 39
Es wird nicht das einzige Kind bleiben, das abhandenkommt.
Die Kinder als Gruppe sprechen mit einer einzigen Stimme. Sie bilden eine sehr starke Gemeinschaft. Sie haben feste, einfache Regeln. Wenn etwas schief geht, übernehmen sie gemeinsam die Verantwortung. Sie können sich auf einander verlassen. Sie lassen sonst niemanden in die Gemeinschaft. Wer sich selbst absondert gehört nicht mehr dazu. Dies muss vor allem Mila spüren.
Mila
Sie hat als einziges Kind eine eigene Stimme. Doch ist sie noch ein Kind? Durch den frühen Tod der Mutter musste Mila sehr früh Verantwortung für den Haushalt und die kleineren Schwestern übernehmen. Sie hat konkrete Zukunftspläne und arbeitet daran. Mila stiehlt, um sich und die Schwestern durchzubringen. Dafür muss sie eine schwere Strafe auf sich nehmen. Obwohl sie nicht die anderen Kinder bestiehlt, sondern verlassene Häuser nach Brauchbarem durchsucht.
Die Alten
Anfangs sind nicht nur die Kinder im Dorf zurückgelassen worden, sondern auch die Großelterngeneration. Sie versuchen sich um die Kinder zu kümmern. Doch je länger die Elterngeneration fehlt, desto schwerer fällt es den Greisen sich Respekt zu verschaffen. Manche werden dement und zum Spottziel der Kinder.
Irgendwann verschwinden auch sie.
Die Eltern
Sie kommen nur dreimal zu Wort. Ihre Rolle ist die Abwesenheit. Sie schreiben zwei Briefe an die Kinder mit einer Art Rechtfertigung für ihren Weggang. Und dem Versprechen zurückzukommen. Anfangs gibt es Telefonate, Post, Pakete. Später nur noch Schweigen.
Doch eine Mutter kommt auch mal zu Wort. Sie beschreibt ihren Arbeitsalltag als Haushälterin. Lange Arbeitszeiten und viel Sehnsucht nach ihren Kindern bestimmen ihr Leben. Sie arbeitet Auswärts um eine Zukunft für ihre Kinder finanzieren zu können. Es bleibt offen, ob diese Rechnung je aufgehen wird.
Eine weitere Ausnahme ist Milas Vater, der Bürgermeister im Ort. Er bleibt, oder vielmehr verschwindet er nur halb. Er ist häufig schwermütig bis aggressiv. Mila beschreibt diese Launen des Vaters als riesige Spinne auf seinem Rücken. Sehr eindringliches, kafkaeskes Bild.
Reale verlassene Kinder
Der Roman hat irgendwie einen dystopischen Charakter. Auch der Vergleich zu Goldings Herr der Fliegen drängt sich geradezu auf. Doch der Hintergrund ist weltweit recht real.
So gibt es in Moldawien Schätzungen über 120000 verlassene Kinder. In der Republik Moldau ca. 250000 (Stand 2014, Quelle FAZ). Im Fernsehen habe ich Berichte über chinesische Kinder gesehen, die ihre Eltern mit viel Glück zweimal im Jahr sehen. In einigen Rezensionen zu „Wir verlassenen Kinder“ habe ich über das totale Unverständnis gelesen, wie Eltern ihre Kinder einfach zurücklassen konnten.
Dabei geht es nur um existenzielle Not. Das können wir uns meiner Meinung nach gar nicht richtig vorstellen (zum Glück). Ganze Dörfer und Städte ohne Arbeitsplätze. Legale Einwanderung in ein Land mit Arbeit ist oft nicht möglich. Also kann man entweder gemeinsam mit den Kindern verhungern, oder man versucht in einem anderen Land Arbeit zu finden. Illegal, das ist mit Kindern nicht möglich. Da hier die Lebenshaltungskosten sehr hoch sind (auch wenn die Lebensumstände so schlecht wie in einem Schlachtbetrieb sind) verschlingen sie viel vom kargen Lohn, so dass nicht viel nach Hause geschickt werden kann. Ich urteile sicher nicht über diese Eltern, die so verzweifelt sind, dass sie ihre Kinder zurücklassen.
Ich denke, dass diese realen verlassenen Kinder der Hintergrund für diesen Roman sind.
Fazit
„Wir verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost ist ein sehr eindringliches Debüt. Obwohl vieles nur angedeutet wird und die Distanz zu den Protagonisten groß bleibt, berührt mich das Schicksal des Dorfes sehr. Würde das Leben der Kinder realer geschildert werden, könnte ich das wohl schwer aushalten. So kann ich die Hoffnung der Kinder, die nie unterzugehen scheint, für mich mitnehmen.
Debütpreis
Der Roman Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres 2020, ausgelobt vom Blog Das Debüt.
Ich darf in der Jury mitwirken.
Die anderen Bücher der Shortlist:
Schatten über den Brettern von David Misch
Hawaii von Cihan Acar
Streulicht von Deniz Ohde
Elijas Lied von Amanda Lasker-Berlin
Wenn du Lust auf mehr Debütromane hast, empfehle ich dir in der Liste der eingereichten Debütromane zu blättern.
2019 gewann übrigens Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer.
Hallo Silvia!
Was du hier erzählst, klingt nach einem sehr aufwühlenden Buch, etwas worüber man noch lange nachdenken kann. Ich werd es mir definitiv vormerken, ich mag solche Geschichten immer sehr gern. Danke dir!
Liebe Grüße und einen schönen dritten Advent!
Gabriela
Hallo Gabriela,
auch ich liebe Bücher, über die ich nach dem lesen noch häufig nachdenken kann.
Das war hier definitiv der Fall.
Alles Gute
Silvia
Liebe Silvia,
ich fand das Buch sehr außergewöhnlich! Und wie du sagst, wäre es nicht so distanziert, könnte man es kaum aushalten. Es ist so unaussprechlich, was für einem Schicksal hier ausgesetzt werden. Ein Buch, das mich auch sehr lange beschäftigt hat.
Hab einen schönen 3. Advent,
GlG, monerl
Liebe Monerl,
da haben wir bei diesem Buch ja dieselben Empfindungen.
So können wir uns wohl gut gegenseitig Empfehlungen aussprechen.
Liebe Grüße
Silvia
War das erste Buch das ich gelesen habe, sehr poetisch und auch sehr sozialkritisch https://literaturgefluester.wordpress.com/2020/02/15/wir-verlasenen-kinder/
Hallo Eva,
Das war auch das erste Buch der Shortlist, das ich gelesen habe. Danach war ich sehr froh, dass ich wieder in der Jury mitmache, denn es hat mich sehr bewegt.
Viele Grüße
Silvia
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