[Rezension] Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)
Sonntag, 22. Juli 2018
DAs achte Leben: 1279 Seiten, die sich lohnen
Puh! Ist es wirklich schon wieder 1 Jahr her, dass ich den letzten Wälzer gelesen habe? „Das kalte Blut“ von Chris Kraus hatte auch 1200 Seiten. „Das achte Leben“ 1279. In letzter Zeit haben viele Blogger geschrieben, dass sie es schade finden, dass sie als Blogger nicht mehr so dicke Bücher lesen können. Sie schaffen dann einfach weniger und können den Blog nicht adäquat bestücken. Dieses Problem habe ich zum Glück nicht. Ich habe ja Silvia, die immer einspringt, falls ich mal nichts schreiben kann oder möchte. Allerdings kann ich auch nicht verstehen, warum man sich von Büchern unter Druck setzen lässt. Wenn ich Lust auf ein dickes Buch habe, lese ich das. Dann muss der Blog eben mal kurz pausieren. Aber das sieht jeder anders.
Ich hatte mit „Das achte Leben (Für Bilka)“ ziemliche Startschwierigkeiten. Als ebook habe ich es geschenkt bekommen und schnell vergessen. Als ich immer mehr von dem Buch hörte, recherchierte ich und legte es wieder beiseite. Die Lust auf Russland und Georgien war nicht sehr groß. Irgendwann fing ich doch an und hörte wieder auf. Nicht mein Ding! Aber dann packte mich dieses Buch doch. Und im Nachhinein kann ich mein Zögern gar nicht mehr verstehen.
Inhalt
Georgien, 1900: Stasia wird geboren und mit ihr beginnt die der sechs Generationen umfassende Geschichte. Sie, die einen angesehenen Schokoladenfabrikanten zum Vater hat, heiratet einen Soldaten und bekommt 2 Kinder. Kostja und Kitty. Kostja wird schnell zum neuen Familienoberhaupt, nachdem sein Vater im Krieg fällt. Er hat Beziehungen, wie man sich das in Russland vorstellt und managt das Leben seiner Familie. Übernimmt die Erziehung der eigenen Tochter Elene und nachdem die mit Männern kein Glück hat, auch die der beiden Enkeltöchter.
Immer wieder ist von geheimen Machenschaften, Korruption und Gewalt die Rede. Es ist nicht immer leicht für die Familie. Krieg und Politik lässt das Leben anders laufen als gewünscht.
Im Jahre 1993 erblickt Brilka das Licht der Welt und Niza, die Tochter von Elene erzählt ihrer Nichte die Familiengeschichte.
Brilliant
Brilliant, wie Haratschwili immer wieder einen neuen Plot anfängt. Neue Personen dazukommen, mit alten verbunden werden, geschichtliche Ereignisse in die Geschichte eingeflochten werden. Sprachlich passt jedes Wort. Die Autorin erzählt phantasievoll, spielt mit Worten, kann Sprache gekonnt einsetzen. Das habe ich selten so in Büchern gefunden. Und diese Sprachgewalt findet sich auf allen Seiten wieder. Nie habe ich das Gefühl, das der Roman langatmig oder gar langweilig wird. Jedes Wort dieses Buches ist wichtig für die Geschichte.
Lediglich mit einigen Namen habe ich anfangs Probleme. Da Haratschwili teilweise nicht die echten Namen von bekannten Personen benutzt, muss ich das Internet und die Suchmaschinen befragen.
Diese Familiengeschichte gibt sehr deutlich die russische und georgische Geschichte des letzten Jahrhunderts wieder. Vieles wußte ich nicht, vieles habe ich auffrischen können, nicht alles habe ich verstanden. Aber es hat mir ein neues Verständnis für die osteuropäische Geschichte beschert.
Übrigens war auch der Schokoladenfabrikant das ganze Jahrhundert über in der Geschichte präsent. Er hat nämlich eine Trinkschokolade entwickelt, die magische Kräfte hatte. Bis zuletzt hatte ich auf das Rezept gehofft 😉
Tolle Charaktere werden im Laufe des Buches zu guten Bekannten oder gar Freunden. Dabei wurde mir wieder einmal bewußt, welches Glück ich habe, im „Kapitalismus“ geboren und aufgewachsen zu sein. Die Geschichte macht nämlich sehr deutlich wie eng das Weltgeschehen mit dem eigenen Leben in Zusammenhang steht. Träume gehen aufgrund von Krieg, politischen Entscheidungen nicht in Erfüllung. Auch beruflich kann man sich nicht so entwickeln wie man es sich vorgestellt hat.
Autorin
Die junge Autorin hat schon viele Erfolge zu verzeichnen. Sie ist in Georgien geboren, lebt aber in Deutschland. Leider habe ich nicht in Erfahrung bringen können, seit wann sie hier lebt.
Im September beginnt das alljährliche HarborFrontLiteraturfestival in Hamburg. Die Eröffnungsveranstaltung ist in der Elbphilharmonie und zu Gast wird Nino Haratischwili sein. Und ich habe Karten!!! Ich freue mich schon sehr.
Ein paar Zitate habe ich noch für euch, damit ihr einen Eindruck bekommt:
Ich stieg alleine den steilen Weg zum Strand hinunter, auf der Suche nach ihren letzten Spuren, aber ich fand nur das Meer
Stasia hatte recht gehabt, als sie ihr damals vorwarf, ihn mit zu viel Träumen zu füttern und zu wenig von der zähen Realität abbeißen zu lassen.
Vögel fielen vom Himmel, weil sie beim Anblick des Reigens das Fliegen verlernten, und Kinder wurden schlagartig erwachsen und putzten Granaten. Tränen waren selten und teuer geworden. Nur Fratzen gab es kostenlos.
Aber neben dem Glück, das wie goldenes Konfetti auf Stasia niederprasselte, ging in jenem Augenblick eine kleine Tür auf. Es war eine Tür jenseits der Zeit und jenseits des Schicksals, jenseits aller Gesetzmäßigkeiten.
Fazit
„Das achte Leben“ ist eine georgische Familiengeschichte, die sich über ein gesamtes Jahrhundert hinzieht. Keine 08/15-Geschichte, sondern eine sehr ereignisreiche Geschichte, die auch mit der Politik verwoben ist. Mir hat sie viele neue Erkenntnisse zur osteuropäischen Geschichte beschert.
Die Autorin ist ein Sprachgenie. Vielleicht stammt ein Satz aus dem Buch aus ihrem eigenen Leben. Die Professorin der Erzählerin Niza denkt, dass Niza trotz ihres Migrantendaseins besser deutsch schreibt als die muttersprachlichen Kommilitonen.
Und nun?
Um „Das achte Leben“ würdevoll ausklingen zu lassen, würde ich nun mit Stasia gerne eine heiße Schokolade trinken, während die Geister nebenan Karten spielen.
Liebe Astrid,
auch ich bekam das Buch empfohlen und war hingerissen. Ich mag dicke Wälzer in denen man gefühlt „jahrelang“ versinken kann. Aber ich habe es dann doch nach 400 Seiten (so um den Dreh) aus der Hand gelegt. Und weißt du warum. Es hat mir wirklich so oft das Herz zerrissen. Daran sieht man aber auch wie toll und absolut packend Nino Haratschwili schreibt.
Vielleicht werde ich es zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die Hand nehmen, denn ich bin ganz wie du der Meinung, dass es ein großartiges Buch ist.
Und ja, das Schokoladenrezept hätte ich auch nur zu gerne gehabt, aber dann wäre der Zauber verflogen und Glück hat sie ja auch nicht gebracht.
Andrea
Liebe Andrea,
ich bin mir ziemlich sicher, dass Du das Buch noch zu Ende lesen wirst. Vielleicht brauchst Du zwischendurch einfach mehr Abstand.
Kurzzeitiges Glück hat die Schokolade ja schon gebracht und mehr erwarte ich auch nicht von einer Schokolade 😉 Aber die Episoden waren einfach so wunderschön geschrieben.
Ich werde sicher noch häufiger in dieses Buch hineinschauen. Und ich werde es wohl noch als Printexemplar kaufen müssen, um es ins Regal zu stellen.
Liebe Grüße
Astrid