Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute
Sonntag, 3. April 2022

Besondere Menschen in einem ganz normalen Dorf
Ein ganz normales Dorf in Deutschland, ganz in der Nähe von Hannover. Ein Dorf, wie wir es alle kennen. Ein paar Geschäfte, Schulen, eine Bank. Und ein Stadtfest. Hier ist es das sogenannte Zwiebelfest. Der ganze Ort feiert bis in die Morgenstunden. Der Alkohol fließt in Strömen, vor allem die jungen Leute wollen das auf keinen Fall verpassen. Doch so normal dieser Ort ist, so besonders sind einige seiner Einwohner.
Außenseiter
Wie überall gibt es auch hier Menschen, die anders sind. Das ist vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene nicht einfach zu ertragen.
Die Beschreibung der Typen ist unheimlich bildlich und eindringlich. Trotzdem sind diese Personen so besonders, dass ich keine vergleichbaren Menschen kenne.
Da ist zum Beispiel der Abiturient Timo, der es hasst angesehen zu werden:
Wenn er könnte, würde er beim Blick in den Spiegel selbst lachen: Timo hat die Gliedmaßen einer Pflanze, rankenartige Arme und Beine, blass grünliche Haut und orangegelbes Haar, das wie eine Blüte auf dem Kopf leuchtet. Sogar seine Bewegungen erinnern an die niedersächsische Vegetation, der schwankende Kopf fast schon ein Abbild des Gelben Frauenschuhs, stummelige Finger und Zehen wie frisch gewachsene Moschuskrautblätter.
Also ich habe da kein genaues Bild vor Augen. Oder sind bei dem Betrachter Drogen im Spiel? Vielleicht, denn Speed spielt im Buch auch eine wichtige Rolle.
Richard
Noch so ein Außenseiter. Er sieht „normal“ aus, sein Problem liegt in seiner Aura:
Bereits im Kindergarten hatte man bemerkt, dass er den Menschen in seiner Umgebung die Energie aussaugt.
Menschen werden schlapp und können sich kaum bewegen wenn er in der Nähe ist. Kaum jemand ist dagegen immun. Außer es sind Drogen im Spiel. Sind seine Mitmenschen auf Speed, kann Richard ganz normal Kontakt mit ihnen haben, ohne dass jedes Gespräch erstirbt, sobald er näherkommt.
Das hat natürlich auch schon mal sehr lustige Konsequenzen. So sind die Mitschüler, die links und rechts von ihm sitzen nicht in der Lage dem Unterricht zu folgen. Auch kommt niemand auf die Idee Richard mal eins überzubraten. Die ganze Energie verpufft in seiner unmittelbaren Nähe. Sehr schräge Idee des Autors. Humor ist ein Thema, das den ganzen Roman begleitet, einfach weil der viele sehr originelle Ideen verarbeitet.
Valerie
Bei ihr liegt das „Problem“ in ihrer Heimatlosigkeit. Die Eltern stammen aus Russland, sie wurde erst in Deutschland geboren. Für die russischen Verwandten ist sie eine Deutsche, für die Deutschen eine Russin. Sie gehört nirgendwohin.
Wenn man von den zwei Welten, in denen man lebt, die eine Welt abzieht, die man kennt, dann bleibt keine Welt mehr übrig, in der man zu Hause ist.
Toller Satz, oder? Dieses Problem sich mit einer Heimat zu identifizieren wird in vielen aktuellen Romanen thematisiert. So zum Beispiel in Streulicht von Deniz Ohde oder in Drei Kameradinnen von Shida Bazyar.

Verschwundene
Doch der Plot geht eigentlich nicht um das Zweibelfest, das Dorf und die Außenseiter. Es geht um verschwundene junge Menschen. Zum Beispiel Flore. An einem Abend fährt sie noch mit dem Roller durch den Ort, am nächsten Tag ist sie weg. Spurlos verschwunden. Es gibt keine Hinweise auf Ausreißen oder ein Verbrechen. Die Familie ist fassungslos. Auch weitere, meist junge Menschen verschwinden einfach so. Nicht nur hier, in ganz Deutschland. Die junge Jenny, Floras Schwester, will ihre Schwester suchen. Sie findet Hinweise auf eine gewisse Martha in Floras Tagebüchern. Jenny macht sich auf die Suche im nahen Hannover.
Rasputin
In Hannover regiert Rasputin. Er ist der Oberdrogendealer. Soweit, so normal. Doch um Rasputin ranken sich viele Legenden, die sich fast lesen wie Chuck-Norris-Witze:
Der Drogendealer, der angeblich sofort unsichtbar wird, wenn sich ein Polizist in seiner Nähe befindet? Der in einer Diamantenmine in Sibirien ausgegraben wurde? Der nicht verhaftet werden kann, weil keine Tür im Gefängnis sich abschließen lässt, wenn er drin ist?
Umso erstaunlicher, als ich im Laufe des Buches feststellte, dass einiges davon war ist. Sehr skurril, magischer Realismus. Oder sind doch alle auf Droge?
Surreal
Als Rasputin im Plot persönlich erscheint und sein Äußeres beschrieben wird, hat der Autor Pfizenmaier mich verloren. Bis dahin war ich fasziniert vom unterschwelligen Surrealismus, doch da wurde es mir Zuviel. Wahrscheinlich ist es als Symbol gedacht, oder auch nicht? Das Cover erinnert mich auch ein wenig an Beschreibungen auf einem LSD-Trip. Da im Roman auch einiges an Drogen konsumiert wird, geht es vielleicht auch darum.
Oder auch an die Leichtgläubigkeit von angehenden Sektenmitgliedern? Wie naiv manche Protagonisten anderen ihre Versprechungen abnehmen, ist schon interessant. Allerdings sind junge Erwachsene auch häufig schnell zu begeistern, wollen ihre Ketten sprengen und neue Welten kennenlernen.
In einem Interview mit Buchreport hat Pfizenmaier seinen Roman in drei Sätzen so beschrieben:
Ein Text über junge Menschen, die herausfinden müssen, wie viel Solidarität und wie viel Egoismus es braucht, um in einer deutschen Gesellschaft klarzukommen. Mir ging es darum, Bilder für die emotionale und körperliche Entfremdung von Teenagern zu finden und was es heißt, sich als junger russlanddeutscher Mensch gegen Assimilation zu wehren, ohne sich von den anderen abzukapseln. Das zusammen als Mystery-Geschichte erzählt, die sich selbst und die Realität nicht allzu ernst nimmt.
Vielleicht hätte der Klappentext Auskunft über den „Mystery“-Teil geben sollen, dann wäre ich mit einer ganz anderen Erwartung an das Buch herangegangen. Allerdings wäre dann auch einiges an Witz verloren gegangen. Also: seid einfach offen diesem ungewöhnlichen Buch gegenüber.
Fazit
Draußen feiern die Leute von Sven Pfizenmaier ist ein sehr ungewöhnlicher Debütroman. Voller Witz und origineller Charaktere. Er zeigt aber auch Probleme und auch die Hoffnungen vieler Jugendlicher und junger Erwachsener auf. Stilistische ansprechend formuliert bringt der junge Autor mit diesem Buch frischen Wind in die Literaturszene.

Pingback: {Rezension} Draußen feiern die Leute von Sven Pfizenmaier ♣ Bellas Wonderworld