Verlorene Seelen
Jonas ist 14 Jahre alt. Seine Mutter ist tot, der Vater kommt ins Gefängnis. Sonst gibt es keine Familienangehörige. Jonas muss also in ein Kinderheim. Dort ist er erst einsam, dann trifft er auf andere Kinder und Jugendliche, die sich ebenso alleingelassen fühlen. Der Roman umfasst nicht nur die Zeit im Heim, sondern auch einen längeren Zeitraum danach.
Die Gruppe
Jonas wohnt mit Frei auf einem Zimmer. Dessen Name ist Programm, er lässt sich nichts sagen, von niemandem. Die kleine zarte Lilly kommt erst später dazu. Beria und Sinan sind Geschwister. Dann gibt es noch den Jungen, der Pappel genannt wird.
Sie erfahren keine Geborgenheit im Heim. Die Pflegemutter überlässt die Kinder größtenteils sich selbst. Ihre eigene Tochter Jessica wird hingegen sehr verwöhnt. Diese gebärdet sich wie eine Diva und nutzt die anderen schamlos aus.
Ritual
Abends treffen sie sich häufig gemeinsam in einem Zimmer und teilen sich einen Apfel. Es geht nicht darum den Magen zu füllen, sondern darum, den Hunger nach Gemeinschaft, Familie, Zusammenhalt zu stillen. Diese „Apfelabendmahle“ schweißen sie zusammen und geben allen die Möglichkeit den Tag zu reflektieren.
Dieses Bild habe ich übrigens einem AI-Bildgenerator erstellt. Wollte ich einfach mal ausprobieren.
Die Kinder fühlen sich alle verloren und wissen nicht wo sie hingehören. Jamal drückt das in einem dem Buch vorangestellten Satz sehr passend aus
Da, wo ich bin, kann ich nicht ankommen, und da, wo ich ankomm, kann ich nicht hin.
Doch durch das abendliche Ritual und die Bereitschaft füreinander einzustehen, wachsen sie zu einer Art Ersatzfamilie zusammen.
Jimmy
Im Heim wird Jonas schnell zu Jimmy. Er hast den Spitznamen, kann ihn aber nicht mehr abschütteln. Er ist sensibel und emphatisch. So gewinnt er unter den anderen Kindern schnell Freunde. Zum Teil fürs Leben. Er entdeckt die Literatur und liest alles, was er in die Finger bekommt. Später ist es sein sehnlichster Wunsch Schriftsteller zu werden. Dafür gibt er alles.
Trennung
Wenn man 18 Jahre alt wird, muss man das Heim verlassen. Das ist nicht einfach. Weder für den, der geht, noch für die, die bleiben. Eines Tages verschwinden zwei von ihnen spurlos. Der Rest des Buches beschäftigt sich praktisch mit der Auflösung der Hintergründe. Dabei lässt der Autor keine losen Enden.
Doch die Vergangenheit im Heim lässt sich nicht abschütteln, so sagt Jimmy als Erwachsener mal über das Heim:
Wir sind schon so lange da raus, aber es wird nie aus uns herauskommen.
Perspektive
Jimmy ist die Hauptfigur, der Roman wird von ihm als Ich-Erzähler entwickelt. Dabei hat Jamal einen interessanten Kniff genutzt: auch das Vorwort ist in der Ich-Form geschrieben. So kam ich nicht umhin mich zu fragen, ob Salih Jimmy ist. Die beschriebenen Ereignisse und Gefühle kommen mir als Leserin durch diese Perspektive sehr nah. Verstärkt wird das durch die vielen Metaphern, die die Sprache des Autors durchziehen. Ich muss aber auch sagen, dass er nach meinem Geschmack etwas sparsamer mit diesen Bildern hätte umgehen können. Allerdings bekommt das Buch so eine poetische Note und verdeutlicht die Gefühle der Protagonisten sehr stark.
Zeitreise
Jimmy ist 1972 geboren. Die Geschichte setzt also Mitte der 1980iger Jahre ein. Im Laufe des Buches werden immer wieder tatsächliche Ereignisse erwähnt. Auch Musik und Filme werden genannt.
So war der Roman für mich auch eine Zeitreise, ich bin nur ein paar Jahre älter als Jimmy. Ich hatte häufig Ohrwürmer durch die genannten Songs, die mich für den Rest des Tages begleiteten. So bekam ich häufig während der Lektüre recht nostalgische Gefühle.
Autor
Salih Jamal ist selbst Jahrgang 1966. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf. Für seinen Debütroman „Briefe an die grüne Fee“ erhielt er 2018 auf der Frankfurter Buchmesse eine Auszeichnung für das beste Buch des Jahres in der Kategorie zeitgenössische Literatur ausgezeichnet. Mit seinem Roman „Das perfekte Grau“ schaffte er es auf die Hotlist der Bücher des Jahres der unabhängigen Verlage. Zu diesem Buch findet ihr ein Interview mit dem Autor auf unserem Blog.
Fazit
Vor der Nacht von Salih Jamal ist ein sehr bildgewaltiges, einfühlsames Buch. Es ist ein gefühlvoller Roman über das Schicksal einiger Menschen, die eine gemeinsame Vergangenheit in einem Heim über ihr ganzes Leben hinweg verbindet.
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