Angie Kim: Miracle Creek
Sonntag, 10. Mai 2020

Rezension eines Romans über Lüge und Wahrheit
Eine Scheune brennt ab. Zwei Menschen sterben dabei, mehrere sind verletzt, zum Teil sehr schwer. In der Scheune stand eine Druckkammer für Sauerstofftherapie. Wie ist der Brand entstanden? War es ein Unfall? Brandstiftung? Wer ist verantwortlich?
Wollte eine Mutter ihr Kind dabei töten? Oder ging es um die Versicherungssumme? War Rassismus das Motiv? Oder handelt es sich doch nur um ein tragisches Unglück?
Ein Jahr später einer Frau der Prozess gemacht. Sie soll das Feuer gelegt haben. Als Leserin konnte ich den Prozess aus verschiedenen Perspektiven verfolgen. Dadurch wird klar: keiner sagt die Wahrheit.
Lügen haben kurze Beine
Das sagt man so. Und bewahrheitet sich immer wieder. Wir alle lügen ständig, meist nur kleine Notlügen die das Leben bequemer machen. Manchmal unbewusst, manchmal wissen wir es nicht besser. Manchmal auch mit voller Absicht. Und oft kommt es am Ende doch raus. Ein Problem gibt es noch:
Wenn man einmal gelogen hat, musste man an der Lügengeschichte festhalten.
S. 327
Doch was ist, wenn alle Beteiligten lügen? Passen ihre Geschichten dann noch zusammen? Alle hier in diesem Buch sagen immer wieder: jetzt sage ich die Wahrheit! Doch wenn man also zeuge vor Gericht aussagt und dabei lügt, dann ist das ein Meineid. Dafür kommt man ins Gefängnis. Das ist kein Kavaliersdelikt, wie so kleine Alltagslügen.
und wenn die Liebsten merken, dass der andere lügt, dann bauen sie ein weiteres Lügengeflecht auf um den anderen zu schützen. Vielleicht ist das aber gar nicht nötig? Hätten hier alle gleich mit offenen Karten gespielt, wäre es vielleicht gar nicht zu diesem Brand mit diesen schrecklichen Folgen gekommen.
Perspektiven
Eine der großen Stärken des Romans ist der Aufbau aus verschiedenen Perspektiven. Nach und nach verfolge ich den Prozess und lerne die Wahrheiten der Einzelnen Personen kennen. Da sie von anderen angelogen wurden, ziehen viele falsche Schlüsse.
Spannend ist auch der Prozess selbst, die Gefechte die sich Staatsanwalt und Verteidigerin liefern. Hier geht es nicht um Recht, sondern darum wer seine Meinung am besten verpacken kann. Wer kann am besten Zweifel sähen? Denn Beweise gibt es kaum.
Lösung
Was wirklich passiert ist möchte ich natürlich nicht verraten. Erst am Ende wird alles klar, setzen sich die Puzzlestücke zu einem fertigen Bild zusammen. Viele Kleinigkeiten kamen am Tag des Brandes zusammen. Eine unheilvolle Kausalkette verteilt die Schuld auf viele Schultern.
Gute und schlechte Dinge – jede Freundschaft, jede Liebe, jeder Unfall, jede Krankheit – waren das Ergebnis der Verschwörung Hunderter Kleinigkeiten, die jede für sich genommen vollkommen belanglos waren.
S. 500

Mütter
Ein großes Thema des Romans ist die Mutterschaft. Sind wir Mütter je mit unseren Kindern zufrieden? Im Buch geht es oft um Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Für deren Mütter ist diese umstrittene Sauerstofftherapie ein Strohhalm, nachdem sie greifen. Das Leben dieser Mütter mit behinderten Kindern ist voll von der Betreuung ihrer Schützlinge ausgefüllt. Da bleibt kein Platz für Selbstverwirklichung. Sie werden alle auf die eine oder andere Art allein gelassen. Sie versuchen alles Mögliche, damit das Wunder geschieht, und ihr Kind mehr dem Ideal entspricht, dass sie sich als werdende Mutter mal vorgestellt haben. Alle sind Supermoms, leisten Unglaubliches und sind zutiefst unglücklich.
Ich, als Mutter von gesunden Kindern, die kein Handicap haben, setze hohe Erwartungen in sie. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie ich als Mutter eines Kindes mit „richtigen“ Problemen versagen würde. Diese Mütter haben alle meine Hochachtung verdient. So viele vermeintliche Fehler sie auch machen. Ich mache in der Erziehung der Kinder (und meine sind jetzt schon 17 und 19) auch täglich Fehler. Vielleicht resultieren auch viele darin, dass ich sie nicht so annehmen kann wie sie sind. Dieses Problem haben alle Mütter in dem Buch, egal ob ihre Kinder gesund, „normal“, schwerstbehindert oder in einer individuellen Form „verhaltensauffällig“ sind. Jede Mutter hat mal böse Gedanken bezüglich des Kindes. Und trotzdem lieben wir sie immer und absolut. Das kommt hier sehr gut heraus.
Versteht mich nicht falsch, ich möchte die Probleme, die ich mit meinen Töchtern habe, nicht mir denen einer Mutter mit einem schwerstbehinderten Kind gleichsetzen. Ich möchte darauf hinaus, dass wir immer ein etwas noch besseres Leben für unsere Kinder anstreben. Und dieses Buch zeigte mir, dass ich da vielleicht mal einen anderen Maßstab anlegen sollte. Sehr lehrreich für mich!
Im Roman bringt eine Mutter mit koranischen Wurzeln bringt das am Ende des Buches nochmal gut zum Ausdruck und versucht den koreanischen Begriff „Han“ zu erklären, ein Wort, für das sie keine Entsprechung in der englischen Sprache kennt:
Han war unglaubliches Leid und Bedauern, die Seele durchdringende, tiefe Trauer und Sehnsucht – hauchzart durchwirkt von Resilienz und Hoffnung.
Fazit
Sehr kurzweiliger Roman, fast wie ein Krimi. Er zeigt, wie Lügen ins Unglück führen und die Wahrheit ebenfalls unglücklich machen kann. Spannend, aber nie seicht, unterhaltsam, aber mit kontroverse Themen behandelnd. Es handelt sich um das Debüt der US-Amerikanerin Angie Kim. Gute Filmvorlage!
Oh, das klingt sehr interessant. Das Buch ist mir schon bei Goodreads aufgefallen. Wird sich gemerkt. 🙂
Viele Grüße, Melanie
Hallo Melanie,
Wirklich eine Leseempfehlung, dieses Buch.
Ich denke noch häufig daran und habe den Kauf nicht bereut.
Viel Lesespass damit
Silvia
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