Donal Ryan Seltsame Blüten
Sonntag, 31. März 2024
Die Geschichte einer irischen Familie
Eine kleine Familie lebt auf dem Land in Irland, irgendwann in den 1970iger Jahren. Paddy und Kit Gladney wohnen mit ihrer Tochter Molly in einem kleinen Cottage. Die Eltern arbeiten beide, ihr Leben erlaubt keine großen Sprünge, aber sie sind zufrieden. Moll heißt eigentlich Mary, sie lebt ebenso ein ruhiges Leben, bis sie mit 20 Jahren plötzlich, ohne eine Nachricht an ihre Eltern, verschwindet.
Traurige Suche
Die Eltern sind verzweifelt. Es ist die Zeit vor dem Internet und des Mobilfunks. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Das ganze Dorf nimmt Anteil, wenn auch viel getratscht wird:
Man würde das Naheliegendste denken: dass Molly Gladney entweder tot oder schwanger war. Und was davon schlimmer gewesen wäre, das wusste man nicht.
Außer beten bleibt ihnen nicht viel, was sie tun können. Wir befinden uns im katholischen Irland. Die Mutter betet unzählig viele Rosenkränze. Dabei kommt sie mir in keiner Weise bigott vor. Das ist wahrer Glaube. Diese Nähe zur katholischen Kirche wird im Roman immer wieder deutlich. Zum Beispiel auch durch die Namen der Kapitel, wie z.B. Genesis, Exodus, Hohelied und Offenbarung.
Zurück
Eines Tages, nach fünf Jahren, steht Moll einfach wieder vor der Tür. Erklärungen gibt sie nicht an. Doch sie ist eindeutig weder tot noch schwanger. Kit und Paddy sind sehr glücklich, das geliebte Kind wieder bei sich zu haben.
Bis ein Fremder nach Moll fragt. Paddy will ihn verjagen und erfährt dabei Erstaunliches.
Idylle
Die Hauptfigur im Roman ist für mich Irland selbst. Letzten Herbst bin ich für zwei Wochen quer durchs Land gereist und kann mir die beschriebenen kleinen Ortschaften sehr gut vorstellen. Der Beginn des Romans spielt zwar vor etwa 50 Jahren, doch die dörfliche Struktur und die beschriebenen Häuschen stehen auch jetzt noch so dort. Auch die beschriebene Landschaft deckt sich genau mit meinem Bild von Irland.
Das Grün hier. Überall dieses Grün, die Bäume voll davon, die Hecken hell, dunkel und in allen Schattierungen dazwischen gesprenkelt, sanft geschwungene Wiesen und grüne Hügel, soweit das Auge reichte…
Das hört sich verkitscht an, ist aber tatsächlich so, insbesondere das Grün der Weiden und die riesigen Hecken. Wir sind an vielen Kilometern hoher, blühender Fuchsienhecken vorbeigefahren. Daran konnte ich mich kaum sattsehen.
Zu diesen idyllischen Beschreibungen gehört auch der Eindruck von „hinter dem Mond“ leben. Die Post wird von Paddy natürlich mit einem klapprigen Rad ausgetragen, ein eigenes Telefon gibt es auch lange nicht.
Kein Rassismus
Ein Thema in diesem Buch. Eine Weiße und eine Schwarze Familie treffen aufeinander. Ein Kind wird geboren, Mutter weiß, Vater schwarz. Das Kind ist weiß. Die schwarzen Großeltern sind davon sehr erstaunt und anfangs auch irritiert. Doch dann sagt der Großvater:
Haut sei schließlich nur dazu da, den Körper wasserdicht zu machen, die Farbe spiele da keine Rolle.
Ist das nicht eine wundervolle Einstellung in Bezug auf Hautfarbe?
Auch Kit hat eine Begegnung mit einem schwarzen Mann und was kommt dabei heraus?
Sie hatte noch nie einen Schwarzen aus der Nähe gesehen…
Es ist so schön beschrieben, dass diese vermeintlich einfachen Menschen, die hinter dem Mond zu leben scheinen, vorurteilsfrei an für sie Neues herangehen. Ich hätte Kit und Paddy sehr gerne persönlich kennengelernt.
Perspektiven
In den einzelnen Buchteilen wechseln die Zeiten und auch die Perspektiven. Im ersten Teil werden die Ereignisse aus Sicht von Molls Eltern beschrieben, da bekommt man auch einen guten Eindruck von ihrem Alltag und den mittelalterlich anmutenden Dorfstrukturen. Die Zeit um die Rückkehr von Moll wird aus der Sicht der Mutter ausgeführt, ebenso wie das Schlusskapitel. Auch Molls inneres Ich lernen wir kennen und noch zwei weitere Perspektiven. Dabei werden auch immer wieder Jahre übersprungen, so wird der Text abwechslungsreich und irgendwie dichter.
Kit
Meine absolute Lieblingsperson im Buch. Sie nimmt alle Schicksalsschläge an, verliert dabei nie ihren Glauben. Als sie am Ende alleine in dem kleinen Cottage lebt und sich praktisch schon auf ihren eigenen Tod vorbereitet, weil das ja der Lauf der Dinge ist, hadert sie nicht, ist immer noch voller Hoffnung, dass ein von ihr sehr geliebter Mensch zurückkehrt.
Das alles ist fast an der Grenze zum Kitsch, hat mich aber auch sehr berührt. So zum Beispiel, wie sie die Anwesenheit ihres bereits verstorbenen Mannes erlebt:
… sie hat Besuch von Paddy gehabt, sie kann ihn riechen und seine Energie spüren und seine Stille, unermüdliche Liebe; die den Raum von Wand zu Wand und von der Decke bis zum Boden ausfüllt, und es ist ein Genuss, schlicht und ergreifend, es ist der Himmel auf Erden, hier so umgeben und durchdrungen davon zu sitzen.
Das empfand ich einfach als schön und erinnert mich an meine „Begegnungen“ mit bereits verstorbenen, mit sehr wichtigen Menschen.
Autor
Donal Ryan, Ire, lebt mit seiner Familie bei Limerick. Er wurde 1976 geboren und kam wohl über Umwege zur Literatur, denn er studierte Bauwesen und Jura. Inzwischen hat er mehrere Auszeichnungen für seine Bücher erhalten und unterrichtet an der Uni von Limerick Creative Writing. Seltsame Blüten ist sein fünfter Roman. Ich habe vorher von Ryan schon begeistert „Die Stille des Meeres“ gelesen
Fazit
Seltsame Blüten von Donal Ryan ist ein ruhiger, manchmal poetischer Roman über eine irische Familie. Es hat mich sehr berührt und in mir starkes Fernweh nach Irland ausgelöst.
Ich liebe es, wenn Autoren sich trauen, neue Wege zu gehen und uns mit ihren einzigartigen Geschichten zu überraschen. Danke für die Empfehlung, ich werde definitiv einen Blick darauf werfen!
LG,
Heike