Sehende Hände – Blinde Augen
Dienstag, 17. Mai 2016
Tuina ist eine in China sehr verbreitete Form der Massage. „tui“ steht dabei für drücken oder schieben, „na“ steht für ziehen oder greifen. Das sind die Handgriffe, die während der Behandlung angewandt werden. Sie basiert auch auf einer sehr guten Kenntnis der Akupressurpunkte und deren Wirkung.
In China gibt es viele Massage-Zentren, in denen man sich mit dieser Technik behandeln lassen kann. Viele der Masseure sind blind. So auch die in diesem Buch.
Allerdings sagt einer der Protagonisten „Wir machen hier keine Massage. Wir machen Tuina, das ist etwas anderes.“. Ich schätze ich muss das mal ausprobieren.
Charaktere
Das Buch beschreibt das Leben im Massagezentrum, die Beziehungen zwischen den Kollegen, zu den Kunden und den sehenden Mitarbeitern.
Einzelne Personen werden näher beleuchtet. Es wird beschrieben wie sie blind wurden, welche Probleme sie haben, die Beziehungen zu ihrer Familie.
Da ist zum Beispiel Wang Daifu, der selbst ein Zentrum eröffnen wollte, aber sein Geld an der Börse verspielt hat. Sha Fuming, ein Freund Wangs, einer der Chefs des Zentrums. Xiao Ma, der sich unsterblich in die Freundin von Wang verliebt. Du Hong, die eigentlich Pianistin werden sollte, bis sie merkte, dass der Applaus mit ihrer Behinderung zu tun hatte. Xiao Kong, die ihre Familie belügt um mit Wang Daifu zusammen sein zu können. Jin Yan und Xu Tailai, das zweite Liebespaar im Tuina-Zentrum. Gao Wie, eine sehende Rezeptionistin, die versucht ihre Stellung dort zu behaupten. Zhang Zongqi, der zweite Boss, dessen größte Angst es ist, vergiftet zu werden. Zhang Yiguang, der sein Geld ins Bordell bringt.
Blinde in China
Die Geschichten sind sehr vielfältig, zum Teil tragisch. Es werden in der Welt der Blinden große Unterschiede zwischen Geburtsblinden und später Erblindeten gemacht. Jeder hat Träume, die er zu verwirklichen sucht und Ängste, denen es auszuweichen gilt. Dazu kommt das Zusammenspiel mit allen Kollegen, die nicht nur während der langen Arbeitszeit immer zusammen sind, sondern auch noch in Mehrbettzimmern die Nacht gemeinsam verbringen. Manche Fehden kommen mir aus meinem Arbeitsalltag bekannt vor, viele sind aber auch in der chinesischen Gesellschaft und den dort herrschenden Umgangsformen begründet.
Es wird auch über viele Themen nachgedacht, die außerhalb des Erlebnisbereichs von Blinden liegt. So versucht Sha Fuming hinter das Geheimnis von Schönheit zu kommen.
Am Anfang plätschert der Alltag im Zentrum vor sich hin, und ich dachte „wow“ das hätte ich von China gar nicht gedacht, dass dort Behinderte so gut ausgebildet und integriert werden. Erst nach und nach wird immer deutlicher wie die chinesische Gesellschaft, die Familien mit den blinden Menschen umgehen.
Auch die Ereignisse im Zentrum selbst spitzen sich immer mehr zu. Es kommt zu einem Skandal, in dem auch die sehende Köchin verwickelt ist, alles droht zu zerbrechen. Und dann geschieht auch noch ein schrecklicher Unfall.
Die Blinden bilden eine eigene Subgesellschaft.
Die Normalos würden nie begreifen, was für ein zähes, furchtloses Herz in der Brust eines Blinden pochte.
Aber sie jammern nicht und sind immer auf ihre Selbständigkeit und Würde bedacht. Sie stehen aber immer neben der Welt der Sehenden.
Streng genommen, verstehen die Blinden die Welt nicht, sie benutzen sie nur.
Mir fiel auch auf, dass oft Floskeln aus der Welt der Sehenden benutzt werden „ein Auge auf etwas werfen“, „jemanden durchschauen“, „Unterschiede fallen ins Auge“ und ähnliches. Ich weiß nicht, ob das der Humor des Autors ist, oder ob der Übersetzer Fehler gemacht hat. Ich tippe mal auf Humor! Denn die Tuina-Therapeuten im Buch erzählen auch gerne Witze. Natürlich Blindenwitze.
Der Autor wurde für das Buch mit dem Mao Dun Prize ausgezeichnet, der wohl höchste Literaturpreis Chinas. Das verwundert mich schon etwas, da das Buch ganz eindeutig viel Kritik an der chinesischen Gesellschaft äußert.
Die Gesellschaft ist ihnen [den Blinden] gegenüber selbst wie blind. Sie fristen ihr Dasein im toten Winkel, und das macht aus ihrem Leben unausweichlich ein Glücksspiel. Ein kleiner Zwischenfall, und sie verlieren alles.
Das Buch wurde übrigens bereits verfilmt. Der Film bekam einen silbernen Bären bei der Berlinale 2014.
Nachwort
Ein Cousin meines Vaters wurde als Jugendlicher am Ende des 2. Weltkrieges so verletzt, dass er sein Augenlicht verlor. Doch er machte eine Ausbildung und wurde Physiotherapeut und betrieb eine eigene kleine Massagepraxis.
Leider habe ich ihn nur selten getroffen und ihn nie nach seinen persönlichen Erfahrungen als blinder Mensch in unserer Gesellschaft befragt. Das bedauere ich sehr.
Die Blindenschrift Beispiele habe ich durch einen Braille-Translator übersetzt.
In China gibt es eine eigene Blindenschrift, die nach einem ähnlichen System funktioniert. Auch das wird im Buch kurz erläutert.
Sehende Hände
Bi Feiyu
Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-565-1
416 Seiten,
[D] 22,99 €