Erinnert sich hier noch jemand an die Schluckimpfung? Lediglich ein Stück Zucker in den Mund und schon war man sicher vor dieser heimtückischen Krankheit Polio. Ich kann mich tatsächlich noch vage dran erinnern. Ich bekam das Zuckerstück in meiner kleinen Grundschule auf dem Dorf. Es muss in der ersten Klasse gewesen sein.
Schon lange habe ich nicht mehr über diese Krankheit nachgedacht. Kein Wunder, habe ich doch das Glück, dass sie quasi ausgerottet ist und in meinem Leben nie eine Rolle gespielt hat.
Ganz anders als bei den Eltern der Kinder, die vor den 1960er Jahren aufwachsen. Die Kinderlähmung, wie sie im Volksmund genannt wird, kommt besonders häufig im Sommer vor, im Winter eher weniger. Für viele Kinder ist sie eine harmlose Viruserkrankung, aber eine beachtliche Anzahl bekommt auch Lähmungserscheinungen und manche sterben sogar daran. Die Behandlung ist schwierig.
Richard, ein 14 jähriger Teenager, der in der kleinen Stadt Ballantyne lebt, spielt gemeinsam mit seinem Freund Tom einen Telefonstreich, der tödlich endet. Niemand will ihm glauben, was er dabei gesehen hat. Gaz im Gegenteil. Richard wird beschuldigt, Tom etwas angetan zu haben, weil seine Geschichte sich einfach ausgedacht anhört, denn sie ist total verrückt. In Ballantyne gibt es noch den angsteinflößenden Spiegelwald und ein verwunschenes Haus, das Nachthaus, welches dem Buch seinen Titel gab. Dort hofft Richard die Antwort auf die Ereignisse in der Kleinstadt zu finden.
Interessantes Cover, nicht wahr? Obwohl ich Pommes liebe, hätte ich in einer Buchhandlung nicht zugegriffen muss ich zugeben. Und auch der Klappentext führte mich in die Irre. Da liest es sich wie eine skurrile Komödie. Das Buch begleitet den Protagonisten Johann zwar oft mit einem Augenzwinkern, zum Lachen ist ihm aber eher selten. Das Buch zeigt Johanns Weg von einer jungen unglücklichen Frau zu einem jungen trans* Mann.
Der Roman ist als Rückblick geschrieben. Johann steht in einer nicht besonders sauberen Toilette eines Berliner Clubs und versucht seinen Namen zu pinkeln. Okay, nicht sehr hygienisch, aber es ist etwas, was Johann in seinem ersten Leben als Frau nicht hätte machen können. So sturzbetrunken wie er ist gelingt es ihm auch nach der Transition nicht, aber darum geht es ja nicht. Hier auf dem Klo denkt Johann zurück und lässt die letzten sieben Jahre Revue passieren.
Früher
Eine junge Frau ist gerade mit der Schule fertig. Sie hat ihr Abi eher schlecht als recht bestanden, aber sie weiß eh nicht, was sie mit sich anfangen soll. Sie ist sehr unzufrieden mit sich, ihrem Leben und ist sich nicht sicher, was sie will, wer sie ist. Der krasse Gegensatz dazu ist ihre beste (und einzige) Freundin Louise. Diese hat ein super Abi gemacht, weiß was sie wo studieren will, fühlt sich in ihrer Haut wohl und will auch ihre Freundin glücklich sehen. Die zwei wollen das Ende der Schulzeit mit einer Reise auf die Kanarischen Inseln feiern. Während Louise sich im knappen Bikini an den Strand legt, mummelt sich die Ich-Erzählende Freundin in eine Art Skianzug ein. Und doch hat sie dort eine Begegnung, die ein erstes Samenkorn auf dem Weg der Erkenntnis setzt.
Körpergefühl
Denn sie hat sich noch nie wohl in ihrer Haut gefühlt. Sie umgeht jeden Spiegel, duscht im Dunkeln und betrachtet sich selbst nie. Der Roman beschreibt eher einige wichtige Episoden im Transitionsprozess dieses zutiefst unglücklichen Menschen. Wie soll sie sich eine berufliche Perspektive denken, wenn sie sich, bzw. ihren Körper so sehr hasst? Und hier geht es nicht darum, dass z.B.: eine Frau denkt ihre Brüste sind zu groß oder zu klein. Oder der Bauch nicht flach genug, die Oberschenkel vielleicht nicht straff. Sondern es wird sehr schnell deutlich, dass dieser Mensch die gesamte äußere Hülle nicht akzeptieren kann.
Ich bin eine krakelige Linie, wo alle anderen klar gezeichnete Striche von einem Punkt zum anderen sind und wahnsinnig viel Sinn ergeben.
Ihr Selbstwertgefühl ist unterirdisch. Sie nennt sich selbst Wolpertinger, ein Phantasiewesen, ein Mischwesen aus verschiedenen Tierarten, dessen Ursprung und genaue Zusammensetzung nicht definiert sind. Das gipfelt in einem Akt der Selbstzerstörung und einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Dort bekommt sie durch ein zufälliges Gespräch den Anstoß an ihrer Identität als Frau zu zweifeln. Eine Nachtschwester sagt zu ihr über ihren Körper:
Er sieht aus wie der Körper einer völlig normalen, schlanken, jungen Frau.
Sie stört sich nicht an den wertenden Wörtern normal oder schlank, sondern an dem Wort Frau. Das wird in einem sehr gut geschriebenen inneren Monolog deutlich und ist die Initialzündung für die Neugeburt eines Mannes.
Freunde
Ohne Freunde und deren Unterstützung wäre aus der depressiven Frau kein glücklicher Johann geworden. Sehr gut fand ich, wie beschrieben wurde, dass es für das Umfeld nicht unbedingt einfach ist sich auf die Veränderung einzustellen. Für alle Beteiligten einen manchmal schwierigen Lernprozess. Da sind vor allem Louise und später Micha. Louise, der Johann sein Leben verdankt, die aber mit der Situation und Depression irgendwann auch nicht mehr umgehen konnte. Das Zusammenleben mit Johann, oder in diesem Fall mit der Frau die er früher mal war, ist auch nicht so einfach gewesen. Micha kam später hinzu, er nahm die Tatsache der Transition eigentlich sehr locker auf, sagte oft intuitiv das Richtige. Trotzdem gab es auch da sehr schwierige Situationen, wie zum Beispiel eine Szene in der Umkleide eines Sportvereins. Traurig machte mich, dass Johanns Familie keine Rolle spielte. Er kam gar nicht auf die Idee dort Hilfe und Unterstützung zu suchen. Das hat mich sehr erschüttert.
Humor
Ja, ich war immer wider erschüttert, wie schwer die Welt es einem jungen Menschen macht seine Identität zu finden. Trotzdem ist das kein Depri-Buch. Der Autor schafft es alles leicht erscheinen zu lassen, fast schon humorvoll und trotzdem diese traurigen Gefühle in mir als Leserin auszulösen. Ein paar Szenen bleiben mit sehr bildlich im Gedächtnis, z.B. die Morning Rave before work party oder der Schlager singende Koch. Das war spannend und mir ist auch nicht ganz klar, wie er das gemacht hat, was er da mit mir gemacht hat. Denn eigentlich ist der größte Teil sehr erschütternd, traurig und machte mich auch wütend, zum Beispiel auch nicht einfühlsame Ärzte, Richter, Beamte. Trotzdem hat mich das Buch nicht runtergezogen. Ich habe sehr viele Textpassagen markiert, fast alle Leben von Vergleichen um Johanns Situation auch einem Cis-Menschen wie mir mehr zu verdeutlichen. Und das ist meiner Ansicht nach gut gelungen. Bleibt noch die Frage: darf man das? Darf man ein Buch mit diesem ernsten Thema, das für viele Menschen in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu ist so leicht und manchmal humorig schreiben? Ja klar, darf man das, vor allem, wenn man selbst trans* ist.
Zeitachse
Am Ende jeden Kapitels ist eine Zeitspanne angegeben. Es misst die Zeit bis zur ersten geschlechtsangleichenden Operation, wie sich später herausstellt. So wird immer klar, wieviel Zeit seit dem letzten Kapitel vergangen ist. Die Zeitsprünge sind unterschiedlich groß. Johann beschränkt sich in seinem Rückblick auf die für ihn wichtigen Meilensteine. Das sind welche, die zur Erkenntnis gehören mit der Transition zum Mann den richtigen Weg zu begehen, aber auch viele Situationen der Diskriminierung, Verwirrung, Gewalt (verbal und körperlich) und vor allem die entsetzliche Bürokratie. Es sind aber auch positive Momente, wie zum Beispiel das erste Mal, als Johann „junger Mann“ genannt wird. Ein wahrhaftiger Glücksmoment! Diese Zeitachse beginnt bei „Noch 6 Jahre, 8 Monate und 21 Tage.“ Und endet am Tag nach der OP. Denn das ist der Tag, an dem sich Johann im Spiegel betrachtet. So endet das Buch sehr optimistisch mit dem Satz
Endlich Glück. Los!
Pommes
Schon auf dem Cover sind sie präsent: Pommes Frites. Und dann noch so schöne, langem knusprige Exemplare. Das erste Buch, in dem Pommes ausnahmslos positiv beschrieben werden. Obwohl die Arbeit von Johann in einer Imbissbude nicht unbedingt schön war. Vor allem nicht die übergriffigen Zusammenstöße mit dem Besitzer, der sich für liberal hielt, sich aber echt übel benahm. Das Schlimmste: er merkte es nicht mal. So war die plötzliche Kündigung dieses Jobs auch eine Schlüsselszene im Roman und in der Entwicklung Johanns, denn sie gab ihm Kraft und Selbstbewusstsein.
Habe ich das schon erwähnt: ich liebe Pommes! Und das habe ich mit Johann und dem Autor auf alle Fälle gemeinsam. Mit beiden würde ich mich gerne mal in einer Pommesbude treffen…
Der Autor
Henri Maximilian Jakobs ist nicht nur Autor, sondern auch Musiker, Schauspieler und Synchronsprecher. Er lebt und arbeitet in Berlin. Henri hat eine eigene Band TUBBE, dort spielt er E-Bass und singt. Gemeinsam mit der Radio- und Fernsehmoderatorin Christina Wolf hat er bereits das Buch All die brennenden Fragen veröffentlicht. Außerdem veröffentlichten sie gemeinsam den Podcast Transformer, in dem Christina Henri bei seiner Transformation begleitete. Dafür gab es 2019 sogar den deutschen Hörbuchpreis. Fazit Das Buch Paradiesische Zustände von Henri Maximilian Jakobs ist die Geschichte einer Transformation von einer depressiven Frau zu einem glücklichen trans* Mann. Ein queerer Roman mit einer beeindruckenden Coming of age Geschichte. Diesen Prozess beschreibt der Autor sehr anschaulich, berührend und trotzdem leicht, häufig heiter und humorvoll. Ein Buch, dass mir in einigen Punkten die Augen öffnete, den Spiegel vorhielt und mich manchmal fast zum Weinen und dann wieder zum Lachen brachte.
Chris steht in Leipzig in einem Park. Dort sieht Chris einen Mann. „Der König“. Dieser Mann ist wunderschön. Es gibt Augenkontakt, sie sprechen miteinander. Es funkt zwischen den beiden. Chris kann es kaum fassen, dass sich einer wie Koller Interesse zeigt. So nimmt eine Liebesgeschichte, gepaart mit Roadnovel ihren Lauf.