Annika Büsing: Koller
Sonntag, 12. März 2023
Liebes-Road-Novel
Chris steht in Leipzig in einem Park. Dort sieht Chris einen Mann. „Der König“. Dieser Mann ist wunderschön. Es gibt Augenkontakt, sie sprechen miteinander.
Es funkt zwischen den beiden. Chris kann es kaum fassen, dass sich einer wie Koller Interesse zeigt.
So nimmt eine Liebesgeschichte, gepaart mit Roadnovel ihren Lauf.
Roadnovel
Gibt es den Begriff überhaupt? Kann man Roadmovie so auf Romane übertragen? Egal.
Es gibt eine Fahrt quer durch Deutschland: von Leipzig erst Richtung Ostsee, dann ein U-Turn nach Ludwigsburg, in die Eifel, dann endlich zur Ostsee. Das alles zu zweit in einem recht betagten Polo. Mitten im Sommer.
Das Ziel ist die ganze Zeit klar. Denn Chris berichtet in Rückblenden, während er am Strand der Ostsee sitzt.
Glück ist, mit einem geklauten Trecker den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Allerdings steht meiner Meinung nach nicht der Trip, sondern die Entwicklung der sehr fragil scheinenden Beziehung zwischen Chris und Koller im Mittelpunkt.
Auch das ist spannend gestaltet. So liegt von Anfang an eine starke sexuelle Spannung zwischen den beiden in der Luft. Doch ausgelebt wird sie erstmal nicht. Das fand ich spannend!
Ich überlege, was das Mutigste ist, was ich je gemacht habe. Ich glaube: neben dir aufwachen.
Nicht nur die Beziehung entwickelt sich, sondern auch Chris und Koller.
Überraschung
Ich dachte Anfangs, dass es sich bei Chris um eine Frau handelt. Pustekuchen!
Chris ist ein Mann, das Buch behandelt also eine homosexuelle Beziehung.
Warum war ich so überrascht? Warum bin ich direkt davon ausgegangen, dass Chris weiblich ist? Weil es sich um eine Ich-Erzählstimme handelt und die Autorin eine Frau ist? Weil ich engstirnig bin? Nicht, dass ich ein Problem damit habe einem Mann durch das Buch zu folgen. Doch warum hat es mich so überrascht?
Diese Frage hat mich das ganze Buch über nicht losgelassen.
Daran schloss sich für mich die Frage an: wäre das Buch anders gewesen, wenn es sich um eine hetero Beziehung gehandelt hätte? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass das Geschlecht der Hauptpersonen einfach keine Rolle spielt. Vielleicht eher das von Koller. Eine Wendung im Roman hätte so gar nicht gepasst, wenn Koller eine Frau gewesen wäre.
Doch die beschriebene Beziehung: die hätte genauso ablaufen können. Egal zu welchem Geschlecht sich die beiden Liebenden zugehörig fühlen, zumal Koller auch keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht. Das hat mir gut gefallen.
Aktueller Bezug
Dieses Buch spielt im Sommer 2021. Corona ist anwesend, wird aber nicht überstrapaziert. So wie auch ich das in dem Sommer schon fest im Alltag integriert hatte. Und die große Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz spielt eine Rolle. Die zwei versuchen jemandem im Flutgebiet an der Ahr zu erreichen, weil alle anderen Kontaktmöglichkeiten zusammengebrochen waren.
Die verheerenden Zerstörungen wurden mit wenigen Worten sehr anschaulich beschrieben. Die Bilder, die ich im Fernsehen und auch auf meinem Handy gesehen habe waren direkt wieder in meinem Kopf. Wobei die Handybilder und Videos direkt von Betroffenen geschickt wurden. Einige davon werde ich nie vergessen. Auch hier, rund um Köln, gab es regelrecht untergegangene Orte die es allerdings nicht in die überregionalen Nachrichten schafften.
Es ist ein feines Paradox der Schöpfung, dass über der Apokalypse die Sonne aufgeht.
Protagonisten
Hauptsächlich geht es um Chris und Koller. Die zwei sind so verschieden, wie es nur sein kann.
Koller ist impulsiv, leicht zu begeistern und zu frustrieren. Er sieht toll aus, hat Charisma und ruht in sich selbst und wirkt sehr selbstbewusst.
Chris dagegen ist eher introvertiert, zurückhaltend, rational, planvoll, schüchtern und leidet unter starken Selbstzweifeln. Chris kann die ganze Zeit nicht glauben, dass Koller sich für ihn interessiert und in der nächsten Minute, am nächsten Tag immer noch bei ihm ist. Er kommt gar nicht auf die Idee, dass es in Kollers Innenleben vielleicht auch ein kleines ängstliches Tier gibt, dass vielleicht den Halt von jemanden wie Chris benötigt.
Themen
Dieses Buch hat nur 176 Seiten. An einem Tag habe ich es gelesen.
Dafür beinhaltet es allerdings sehr viele Themen: Freundschaft, Liebe, Familie, Leben mit behinderten Familienmitgliedern, Corona, Flut, die Schönheit der See, Aufzucht von Kois…
Immer wieder werde ich überrascht: von der Sensibilität, mit der Koller auf seine Schwester eingeht, von der Wut, die er auf eine Exfreundin bekommt. Von seiner Unfähigkeit auf ein bestimmtes Kind zuzugehen.
Aber auch Chris ist nun wahrlich kein Langweiler: quasi ein Kollege von mir (Softwareentwickler), seine starke Empathie, die schwierige Mutter-Sohn-Beziehung und vor allem der total überraschende, originelle Grund, aus dem er nach Leipzig gefahren ist. Da wäre ich nie draufgekommen.
Dieses Buch ist niemals langweilig.
So ist das Leben: Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.
Stil
Den Anfang fand ich fast schon poetisch. Im Prolog, an der Ostsee. Oder die Beschreibung wie Chris durch den Park läuft und auf Koller trifft. Ich dachte: hoch, ist ja ganz anders als Nordstadt. Auch hier war ich wieder überrascht.
Doch dann nimmt das Buch und der alte Polo Fahrt auf und der leicht lakonische, ironische, lustig-melancholische Stil, den ich schon aus Annika Büsings Romandebüt Nordstadt kannte, übernimmt wieder das Ruder. Gut so. Ich empfand es nicht als so „schnodderig“ wie Nene in Nordstadt, doch Chris ist auch eine ganz andere Persönlichkeit. So passt alles gut zusammen.
Nordstadt stand übrigens auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt 2022, in diesem Rahmen gibt es auf dem Blog auch ein Interview mit Annika Büsing.
Fazit
Koller von Annika Büsing ist eine temporeiche Liebesgeschichte die quer durch Deutschland führt. Sehr abwechslungsreich und kurzweilig, aber auch eindringlich und intensiv. Ein toller zweiter Roman nach einem gelungenen Debüt.