Steven Uhly: Die Summe des Ganzen
Samstag, 8. April 2023
Kammerspiel im Beichtstuhl
Ein Priester in einer Kirche in Madrid. Jeden Tag verbringt er langweilige Stunden im Beichtstuhl. Seine Schäfchen kommen regelmäßig, erzählen immer dasselbe. Sie holen sich ihre Absolution und den Auftrag zu beten. In der folgenden Woche kommen sie wieder und beichten dieselben Sünden. Bis eines Tages ein Fremder im Beichtstuhl sitzt und mit den klassischen Worten „Padre ich habe gesündigt“ beginnt.
De Mann will zunächst nicht recht raus mit der Sprache. Dann deutet er „unnatürliche Neigungen“ an und erzählt, dass er einen Nachhilfeschüler hat.
Statt weiter zu sprechen, verlässt der Sünder fluchtartig den Beichtstuhl.
Der Priester
Zunächst ist der Priester nur froh, dass der Sünder so schnell verschwand. Denn der Höhepunkt der Woche wartet auf ihn: der Knabenchor. Allen voran Armando, der wohl eine wunderbare Stimme hat.
Sein Alltag läuft sonst nach festen Mustern ab. Hier eine Trauung, dort eine Taufe. Natürlich auch manchmal die letzte Ölung am Krankenbett und Trauerfeiern.
Dieser unbekannte Sünder wühlt ihn auf. Wer steckt wohl dahinter? Was ist genau passiert? Ist „es“ schon geschehen, oder kann das noch abgewendet werden? Er lässt sich immer mehr in die Erzählungen des Sünders hineinziehen.
Der Sünder
Schon nach 20 Seiten erfuhr ich, dass es sich um Lucas Hernández handelt. Auch er scheint hin- und hergerissen zu sein. Voller Mitleid mit dem Jungen, dem er trotzdem anscheinend nicht scheut schreckliches anzutun.
Lucas hat eine Frau und Tochter, scheint aber getrennt von ihnen zu leben. Auch über ihn und seinen Alltag erfahre ich im Buch nicht viel.
Allerding macht er in einem Park in Madrid eine neue Bekanntschaft: Akachukwu.
Akachukwu
Übersetzt heißt sein Name „die Hand Gottes“. Sicher kein Zufall, der Name in diesem Buch. Lucas kauft ihm aus einer plötzlichen Eingebung ein paar Gramm Gras ab. Sie kommen ins Gespräch und der Nigerianer scheint Lucas einzige Bezugsperson in Madrid zu sein.
Durch Akachukwu kommt die Verlogenheit der Gesellschaft nicht nur um Bezug auf Kirche, sondern auch Richtung Migration und fehlende Integration zur Sprache. So berichtet er zum Beispiel von seinem Traum eine Ausbildung zu machen. Doch leider kann er als Flüchtling keine geregelte, legale Arbeit beginnen und hat praktisch keine Wahl als kriminell zu werden.
Akachukwu erzählt wie er nach Madrid kam, warum er aus Nigeria geflüchtet ist und auch Lucas öffnet sich ihm nach und nach.
Sie reden über Gott und Religion, die Welt und die Menschen. Diese Passagen sind für mich fast entspannend zu lesen, während sich im Beichtstuhl die Spannung immer mehr aufbaut.
Krimi?
Denn spannend ist das Buch. Fast wie ein Krimi. Ich würde es nicht als Kriminalroman bezeichnen, aber Langeweile kam nie bei mir auf. Dieses Zusammenspiel zwischen dem Priester und Lucas, die Diskussion über Schuld und Sühne waren sehr spannend zu lesen. Es tat dem Buch auch gut, dass es mit 150 Seiten sehr reduziert war. Uhly beschränkt sich auf das wesentliche, alles Überflüssige lässt er weg.
Trotzdem bildhafte Beschreibungen, Kopfkino hatte ich de ganze Zeit. Ich sah den Beichtstuhl, den Kinderchor, den Park. Vielleicht wird das Buch ja auch mal verfilmt, wer weiß?
Beichte
Die dritte der sieben sogenannten Totsünden ist die Wollust, oder auch eben Luxuria. Heute wird in der katholischen Kirche her von Unkeuschheit und Hauptsünden gesprochen. Das hört sich wohl nicht so martialisch an. Trotzdem kann ich als Katholikin diese Sünden beichten und mir Absolution abholen. Ich nehme an, der Hintergrund dessen war auch mal das Bereuen.
Luxuria ist eine Königin, die die Welt regiert.
In diesem Buch wird wunderbar klargestellt, wie absurd das alles doch ist. Vor allem, wenn ich als Sünder mein Leben danach nicht ändere.
Ganz wunderbar eine Szene am Ende, in der der Priester die Beichte ablegen möchte. Wunderbar, wie die Rollen vertauscht werden!
Ich konnte gemeinsam mit einem guten Dutzend anderer Leser: innen mit dem Autor im Rahmen des Leseclubfestivals diskutieren. Dabei meldete sich eine Teilnehmerin und sagte, dass sich mit Kirche keine eigenen Erfahrungen hätte und fragte nach ob das bei den Katholiken wirklich so sei, mit der Beichte und Vergebung und so. Sie war ganz fassungslos.
Leseclubfestival
Vor Corona ist das Leseclubfestival nur in Köln mit mehreren parallelen Veranstaltungen gestartet. Dieses Jahr fand es schon in zehn Städten statt und 33 Autor:innen stellten Leser:innen der Diskussion zu ihrem Buch. Das ist also keine Lesung, sondern wirklich ein exklusiver Lesekreis, in dem man die einmalige Gelegenheit hat mit dem Autor, der Autorin über sein/ihr Buch zu sprechen. Nach dem Kauf der Eintrittskarte bekommst du das Buch nach Hause geschickt, du liest es vor der Veranstaltung und los geht die Diskussion. Auch die Meinung der anderen Teilnehmer:innen ist sehr wertvoll. In meinen eigenen Lesekreisen habe ich manchmal das Gefühl, dass alles ein wenig eingefahren ist. Beim Leseclubfestival kommen Menschen zusammen die sich nicht kennen. Die einzige offensichtliche Gemeinsamkeit ist das Interesse für das Buch. Wir hatten sehr kontroverse Diskussionen an dem Abend.
Tolle Veranstaltungsreihe. Nächstes Jahr bin ich wieder dabei!
Steven Uhly
Uhly diskutierte sehr angeregt und sachlich mit seinen Leser:innen. Auch Kritik konnte er gut wegstecken.
Ihm war gerade, bei diesem Thema Kindesmissbrauch und Kirche wichtig, dass er als Autor kein Urteil fällt, sondern eine Geschichte erzählen möchte.
Einige der Protagonisten hat er in Anlehnung an Freunde geschaffen. Er kennt einige Missbrauchsopfer persönlich.
Interessant war auch, wie er von Lesungen mit vom Missbrauch Betroffenen berichtete. Er erzählt, das wären auch für ihn unheimlich schwere Begegnungen gewesen. Trotzdem war deren Resonanz auf das Buch durchweg positiv.
Fazit
Die Summe des Ganzen von Steven Uhly behandelt das Thema Kindesmissbrauch in der Kirche behutsam und macht doch einen spannendenRoman daraus. Trotz der Reduziertheit des Buches (knapp 200 Seiten) ist es ungeheuer vielschichtig.
Anmerkung: das Buch sehr stimmig gestaltet ist. Allein die Haptik des Papiers lohnt sich und ist in diesem Fall dem eBook vorzuziehen!
Weitere Bücher zum Thema
Auch andere Autor:innen nähern sich dem THema Kindesmissbrauch an:
Hinterhaus von Lioba Werrelmann
Gott hilf dem Kind von Toni Morrison
Zum Thema Kirche empfehle ich folgende Bücher:
Marie kommt heim von Bernadette Schoog
153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal
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