Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind, Rezension
Mittwoch, 26. April 2017
Die Hauptfigur von Tonis Morrisons neuem Roman ist Lula Ann Bridewell, genannt Bride. Und wie eine Braut trägt sie nur weiß. Dies ergibt einen faszinierenden Kontrast zu ihrer sehr dunklen, schwarzblauen Haut.
Bride ist schön, beliebt, alle Männer liegen ihr zu Füssen, sie hat einen Traumjob in der Kosmetikbranche, ein tolles Auto (Jaguar) und ein sehr schönes Appartement in einer lebendigen Stadt. Außerdem noch Booker, ihr etwas geheimnisvoller, aber wunderschöner Freund, mit dem sie seit einem halben Jahr zusammen ist.
Doch eines Tages bricht alles zusammen: Booker verlässt sie, Bride wird verprügelt, sie muss Urlaub nehmen, bis die Wunden verheilt sind.
Doch Heilung erfahren nur die äußerlichen Narben. Innen ist sie die kleine Lula Ann, von niemandem geliebt, als hässlich angesehen. Der einzige Tag, an dem ihre Mutter sie liebevoll an der Hand nimmt ist der, an dem Lula Ann vor Gericht als Zeugin für die Verurteilung einer Kindergärtnerin wegen Kindesmissbrauchs sorgt.
Der Roman bedient sich verschiedener Sichten. Da sind natürlich Bride und Booker. Außerdem Brooklyn, die einzige Brides einzige Freundin und Sweetness, Brides Mutter.
Sweetness
Diese Stimme der Mutter hatte für mich die größte Eindringlichkeit. Mit ihr beginnt und endet der Roman. Somit beginnt und endet er auch damit jede Verantwortung für das Leben der eigenen Tochter abzulehnen. Der erste Satz des Buches lautet dann auch direkt:
Ich kann nichts dafür.
Der letzte:
Viel Glück, und Gott hilf dem Kind.
Die Mutter lehnt jede Verantwortung für ihr eigenes Kind ab und überträgt diese an eine höhere Instanz. Die harte, lieblose Erziehung rechtfertigt die Mutter damit, dass sie ihre Tochter so geschützt hätte.
„Sweetness“: so muss die kleine Lula Ann ihre Mutter nennen, denn diese möchte nicht daran erinnert werden, dass dieses Kind, mit der sehr dunklen Haut, ihr eigenes ist. Der Vater macht sich sofort aus dem Staub, überzeugt, dass Lula Ann nicht von ihm stammt. Nicht, dass die Eltern Weiße gewesen wären: sie waren nur so viel heller. Wie kann eine Mischung dann so dunkel ausfallen.
Rassismus
So ist eines der Themen dieses Buches der Rassismus innerhalb der Afroamerikanischen „Gemeinschaft“. Es gilt: je heller, je besser. Somit zum Selbstverständnis von „Sweetness“. Und dies erfährt Lula Ann nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch ihre restliche Umgebung, wie zum Beispiel ihre Mitschüler. So bleibt sie immer einsam.
Morrison legt Booker folgende Worte über Rassismus in den Mund:
Wissenschaftlich betrachtet gibt es so was wie Rasse gar nicht, Bride, und ohne Rasse ist Rassismus nichts anderes als eine Wahl, die jemand trifft. Die natürlich vorgelebt wird, von denen, die es nötig haben, aber es bleibt eine Wahl. Menschen, die diese Wahl treffen, wären das reine Nichts ohne sie.
Schönheit
Ihre Farbe ist ein Kreuz, das sie immer zu tragen haben wird.
So denkt Sweetness über ihre Tochter. Doch es kommt anders:
Bride gilt als Schönheit. Sie lässt sich professionell beraten, trägt nur noch weiße Kleidung, die ihre dunkle Haut betont. Plötzlich ist sie wer. Kleider machen Leute: hier macht das unschuldige Weiß selbstbewusst, auffällig und somit schön. Die von der Mutter und der Umgebung in der Kindheit eingeimpften Selbstzweifel sind weg:
Die Männer flogen auf mich, und ich ließ sie landen. Eine ganze Weile jedenfalls, bis mein Liebesleben zu einer Art Cola Light wurde – täuschend süß, aber ohne Nährwert.
Wie früher, als sie noch das hässliche Entlein war, wird Bride auf ihr Äußeres reduziert. Keiner interessiert sich für ihre Gedanken, Gefühle Probleme. Booker ist der erste, der ihr zuhört.
Metamorphose
Doch als sie von Booker verlassen wird, verändert sich ihr Körper. Als ob er ihr etwas gestohlen hätte. Aus dem Schwan wird wieder ein Küken:
„Mit flacher Brust, ohne Achsel- und Schamhaar, ohne Ohrlöcher oder stabiles Gewicht versuchte sie, und zwar vergeblich, das zu vergessen, was sie für ihre verrückte Rückverwandlung in ein verängstigtes kleines schwarzes Mädchen hielt.“
Wird sie ohne die Betrachtung durch Booker unsichtbar? Entzogene Liebe scheint noch schlimmer als das Fehlen der Mutterliebe zu sein.
Geschriebene Musik
Booker schreibt auch, Hingeworfene Skizzen ohne Punkt und Komma. Ein paar dieser Texte sind im Buch enthalten. In jedem dieser Texte kommt ein Musikinstrument vor. Musik ist ein weiteres Thema im Buch. Immer wieder wird gesungen, Platten gespielt, Booker spielt trompete. Musik ist hier immer ein Mittel Gefühle auszudrücken oder zu verarbeiten. Oft wird Jazz Musik erwähnt, gespielt, beschreiben. So spannt Morrison einen Bogen zu früheren Werken, wie zum Beispiel Jazz.
Kindesmissbrauch
Ein Thema, das in viele Varianten im Buch auftaucht. Der Prozess, in dem Lula Ann als Kind aussagte, eine Situation, in der sie zur Beobachterin wurde, Bookers Bruder von einem Päderasten umgebracht, ein anderes Mädchen von der Mutter zur Prostitution gezwungen.
Warum ist der Kindesmissbrauch im Buch allgegenwärtig? Gibt es keine unbeschwerten Kindheiten? Warum wird gerade dieses Motiv so vielfältig in diesem Buch thematisiert? Ich kann das nicht wirklich einordnen. Dazu würde ich gerne die Autorin befragen.
Generationenkonflikt
Lula Ann hat Probleme mit ihrer Mutter, Booker hat sich von den Eltern losgesagt, seine geliebte Tante hat keinen Kontakt zu ihren unzähligen Kindern. Die Welt ist im Umbruch, lese ich daraus.
Jedes Kind ist Grund zur Hoffnung, das die Welt eine bessere werden wird.
Eine passende Passage liest sich wie ein Gebet:
„Ein Kind. Neues Leben. Immun gegen alles Böse, jede Krankheit, behütet vor Entführung, Schlägen, sexueller Gewalt, Rassismus, Demütigung, Verletzung, Selbstzweifel, Verwahrlosung. Niemals irrend, voller Güte. Ohne Zorn.“
Dazu passt der (wörtlich übersetzte) Romantitel: „Gott, hilf dem Kind.“ Sollte für jedes Kind gelten, egal welche Schattierung die Haut hat.
Noch besser ist: wir Eltern übernehmen Verantwortung für unsere Kinder. Für eine liebevolle Erziehung, die wichtige Werte vorlebt und weitergibt. In diesem Buch und in der ganzen Welt, zu jeder Zeit.
Fazit
So eine lange Rezension für ein doch eher dünnes Buch. Dran merke ich, wie stark es mich beeindruckt hat.
Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat einen kurzen Roman mit viel Inhalt und Diskussionspotential vorgelegt. Ich habe ihn atemlos verschlungen und werde mit der Interpretation noch länger beschäftigt sein. Der Stil ist meisterhaft. Ich staune, dass eine ältere Dame (falls ich das so schreiben darf) ein so jung wirkendes Buch verfasst hat.
Infos zum Buch
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Toni Morrison Übersetzt von Thomas Piltz Rowohlt Verlag 208 Seiten, gebunden ISBN: 978-3-498-04531-9 19,95 € [D], als Hardcover-Ausgabe |
Pingback: Das Literarische Quartett-Die Bücher der Sendung vom 5.Mai 2017
Eine wirklich ausführliche Rezension, welche mich sehr neugierig auf das Buch gemacht hat!
Ich werde definitiv nach dem Buch und weiteren Eindrücken Ausschau halten – liebe Grüße,
Janna
Hallo Janna,
Ja, ich konnte mich nicht bremsen. ich brauch unbedingt jemanden, mit dem ich über das Buch sprechen kann…
Liebe Grüße
Silvia
Genauso klingt es auch – aber genau das macht eine Rezension lebendig! Mal sehen wann das Buch den Weg zu mir findet, du hast mich auf jeden Fall sehr neugierig gemacht!
Hallo Silvia,
das Buch ist mir kürzlich schon in einer der Literatursendungen aufgefallen, hört sich sehr vielversprechend an und ist aufgrund des Umfangs vermutlich auch geeignet, wenn man bisher noch kein Buch der Autorin kennt.
Wandert gleich mal auf die Wunschliste.
Viele Grüße
Thomas
Hallo Thomas,
ich fand es klasse, wenn ich das auch nicht erklären kann…
Alles Gute
Silvia
Hallo Silvia, Keks,
deine Rezension ist sehr schön ausführlich, es scheint wirklich ein sehr außergewöhnlicher Roman zu sein. Ich hab schon einiges von Toni Morrison gelesen, manches mir zu hoch, manches genial. Eine tolle Schriftstellerin. Dieses Buch schient auch wieder toll zu sein. Letzte Woche hab ich aus dem Bücherschrank Bulach den Roman „Sula“ von Toni Morrison gezogen – hoffentlich finde ich auch diesen Roman mal im Schrank 😉
Mir hat deine ausführliche Rezension viel Spaß gemacht, ich habe diesen Beitrag auf meiner Wanderung durch die Welt der Bücherblogs verlinkt.
Gruß,
Daniela
Hallo Daniela,
vielen Dank für deine Verlinkung und viel Spaß mit Sula. Kenne ich auch noch nicht,
Schönes Wochenende
Silvia
Schöne Besprechung! Ich habe es mir gestern auch gekauft, weil mich die Leseprobe sofort gefangen hat. Habe früher viel von Toni Morrison gelesen und freue mich, dass sie immer noch so toll schreibt!
Viele Grüße!
Liebe Marina,
dann freue ich mich schon auf deine Rezension!
Alles Gute
Silvia
Pingback: Das Literarische Quartett - Die Sendung vom 5. Mai 2017 - Ein Kommentar
Liebe Silvia,
Eine sehr schöne Rezension hast du geschrieben. Ich habe das Buch gestern beendet und in vielen Punkten ging es mir wir dir. Es steckt wirklich viel drin, in diesem kleinen Büchlein und mir ist noch gar nicht so klar, was ich dazu sagen will. Das Buch wird mich wohl noch eine Weile beschäftigen und ich lasse es erstmal noch ein bisschen nachhallen. Ein wichtiges Buch auf jeden Fall.
Deine Bilder zur Rezension gefallen mir übrigens richtig gut. Eine tolle Idee. 🙂
Liebe Grüße, Julia
Hallo Julia,
Wenn es als Taschenbuch erscheint, werde ich es auf jeden Fall im Lesekreis vorschlagen.
Vielen Dank für das Fotolob, meine Töchter assistieren inzwischen ganz gerne…
Alles Gute
Silvia
Haha, das ist ja schön, wenn du bei der Blogarbeit Unterstützung bekommst! 🙂