Bernadette Schoog: Marie kommt heim
Sonntag, 17. Juli 2022

Leben im Pilgerort
Kennst du Kevelaer? Das ist ein kleiner Ort am Niederrhein im Kreis Kleve mit knapp 30000 Einwohnern. Viel mehr Menschen kommen aber jedes Jahr in diesen Ort zu Besuch. Denn Kevelaer ist ein bedeutender katholischer Pilgerort. Das ganze Städtchen ist darauf ausgerichtet und lebt davon.
Dieser Roman spielt in einem solchen Pilgerort. Der Name wird nie genannt, aber da die Autorin dort geboren wurde, liegt es nahe, an Kevelaer zu denken. „Marie kommt heim“ von Bernadette Schoog ist eine Mutter-Tochter-Geschichte, die stark vom Charakter dieses Städtchens geprägt wurde.
Letzte Chance
Marie lebt schon lange nicht mehr in ihrem Heimatort. Doch ihre Mutter ist noch dort, seit ein paar Jahren wird sie in einem Altersheim gepflegt. Marie besucht sie äußerst selten, die Beziehung ist sehr angespannt.
Doch jetzt bekommt sie einen Anruf, dass die Mutter im Sterben liegt und Marie noch einmal sehen möchte.
Alles in Marie sträubt sich gegen eine Konfrontation mit der Mutter und auch mit ihrem Heimatort. Beidem ist sie durch ihren Wegzug entflohen. Doch eine Mischung aus Pflichtgefühl und der Hoffnung doch noch ihren Frieden mit der Mutter zu schließen, lässt sie in die ehemalige Heimat fahren.
Mütter und Töchter
Marie ist ein Einzelkind. Der Vater nur noch eine schöne Kindheitserinnerung. Nach dessen Tod war Marie von panischer Angst gepackt, auch die Mutter könnte sterben und sie allein zurücklassen.
Die Mutter fühlte sich einerseits eingeengt, andererseits übte sie auch bewusst die totale Macht über die Tochter aus.
Viel gesprochen und erklärt wurde nicht, so dass die beiden nie ihre Gefühle einander offenbart haben.
Irgendwann zog Marie nach Süddeutschland, studierte und arbeitete später dort, nicht zuletzt um ihrer Mutter zu entgehen.
So gibt es jetzt, kurz vor dem Tod der Mutter, viel Klärungsbedarf. Doch wird die Mutter die Kraft und den Willen dazu haben?
Es gab noch so viel zu bereden, so viel zu bereinigen, so viel auszusprechen, so viele Missverständnisse zu klären. Wo anfangen, wenn ein ganzes Leben zuvor nicht ausgereicht hat?
Angst
Das Verhältnis der zwei Frauen war auf eine toxische Weise sehr eng. Marie hatte immer Angst vor dem Verlust der Mutter und fuhr während des Studiums manchmal mitten in der Nacht zurück, um nach ihr zu sehen. Ein Umstand, den die Mutter auch ausnutzte. So erzählte sie schon früh ihrem Kind von einer angeblichen Herzschwäche, die sie jederzeit in den Tod reißen könnte. Dies erzeugte Angst, geradezu Panik in Marie, die sie auch als Erwachsene nicht loswurde.
Marie nannte diese Angst bei sich „die Muhme Angst“ und beschreibt sie so
Wie ein Sack, den man Marie auf den Rücken geschnallt hatte, kam sie ihr vor, ein Dämon, ein Kobold, der sich von ihr durchs Leben schleppen ließ.
Diese Angst vor dem Verlassenwerden sorgte auch für eine Beziehungsunfähigkeit bei Marie, so dass sie eigentlich ein recht trauriges Leben führt.
Aufklärung
Marie bekommt ein Paket mit persönlichen Dingen der Mutter ausgehändigt. Dort findet sie Briefe, die ihr plötzlich die Augen über die Mutter öffnen.
Jetzt wechselt der Roman die Perspektive und führte mich plötzlich in die Jugend der Mutter, in diesem Teil bekommt sie auch einen Namen: Elsje. Wie so oft bei einem Wechsel der Erzählsicht bekomme ich plötzlich ein gewisses Verständnis dafür, warum ein Mensch so agiert, nicht aus Bosheit, sondern aufgrund harter Erfahrungen.
Je mehr Briefe Marie liest, desto mehr erfährt sie über die Mutter und auch über sich selbst. Das ist ganz spannend gemacht, denn immer wieder unterbricht die Autorin die Geschichte von Elsje und kehrt zurück zur Gegenwart, zu Marie.

Stimmung
Das Buch hat für mich eine eher düstere Grundstimmung.
Da gibt es aber plötzlich ein Kapitel, das fast heiter daherkommt. Marie trifft einen alten Schulfreund, schwelgt in Erinnerungen und findet einen Weg der Mutter einen dringenden Wunsch zu erfüllen. Die sonst so korrekt und steif erscheinende Marie wird plötzlich kreativ und schreckt auch vor illegalen Tätigkeiten nicht zurück. Das ist alles sehr bildhaft beschrieben, so dass ich mir die Tour durch den Ort mit einem Liegend-Rollstuhl sehr gut vorstellen konnte.
Pilgerort
Alle Protagonisten in dem Buch sind auch durch den Pilgerort stark geprägt.
Die Bevölkerung gibt sich nach Außen sehr gläubig, man geht häufig in die Kirche und betet andauernd. Doch noch wichtiger ist die Sicherung der eigenen Existenz, indem man von den Pilgerströmen lebt. Dabei wurde Maries Familie zwar nicht reich, doch das ganze Leben wurde dadurch bestimmt. Die ganze Stadt lebte davon.
Das erscheint alles sehr bigott, nicht unbedingt wirklich gläubig. Im Gegensatz dazu steht die Hoffnung der Pilger durch diese Reise ihr Leben irgendwie zum Besseren wenden zu können. Die Züge der Pilgergruppen durch den Ort sind ein gut durchorganisiertes Spektakel. Doch andererseits: von irgendwas muss man ja leben. So kann ich dann irgendwie beide Seiten, Pilger und auch Ortsansässige verstehen.
Maries Mutter, deren Bruder ein Bischof wurde, ist immer wieder wie geblendet von allem, was die kirchlichen Würdenträger von sich geben. Kam einer von ihnen zu Besuch, wurde immer nur das Beste auf den Tisch gestellt. Mitreden darf die Mutter als Frau aber natürlich nicht.
Die Mutter nickte ergeben dazu und maßte sich niemals an, eine eigene Meinung zu haben, hörte über allzu Selbstgerechtes hinweg, denn einem Kirchenmann zu widersprechen, wäre einer Sünde gleichgekommen. Außerdem war sie ja nur eine Frau, dafür aber die bestmögliche Gastgeberin.
Doch auch hier wird später klar, dass sie ihren Bruder auch sehr geliebt hat und unheimlich stolz auf ihn war. Es gibt halt immer zwei Seiten.
Die Autorin
Bernadette Schoog erreichte als Fernsehmoderatorin einen gewissen Bekanntheitsgrad. Marie kommt heim ist ihr erster Roman, doch zuvor veröffentlichte sie bereits mehrere Biographien, die sich mit Persönlichkeiten aus der Kunstszene befassten, z.B. über Frieder Burda. Sie studierte Kommunikations- und Literaturwissenschaften und arbeitete auch schon als Dramaturgin an verschiedenen Schauspielhäusern in Deutschland und der Schweiz.
Persönlich
Mein Vater ist vor knapp zwei Jahren gestorben. Wir hatten ein gutes Verhältnis, trotzdem hätte es noch sicher viel gegeben, was er mir hätte erzählen können. Auch er hatte über gewisse Sachen aus seiner Jugend, insbesondere seine Erlebnisse im Krieg und während der Vertreibung aus Schlesien, nie mit mir gesprochen. Ich bin mir sicher, dass hätte einige seiner Eigenarten erklärt. So wühlte dieses Buch doch einiges in mir auf.
Fazit
Marie kommt heim von Bernadette Schoog ist ein vielschichtiger, einfühlsamer Roman über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung. Einfühlsam werden nach und nach die Hintergründe erklärt. Sehr interessant fand ich den Einblick in das Leben in einer Pilgerstadt.
Weitere Buchtipps
In folgenden Büchern werden ebenfalls Mutter-Tochter-Beziehungen thematisiert:
Amy und Isabelle von Elizabeth Strout
Wir kennen uns nicht von Birgit Rabisch
Der Sommer im Garten meiner Mutter von Ariela Sarbacher
Die Geschenke meiner Mutter von Cecilie Enger

Einfühlsame Romane mag ich sehr gerne;)
Alles Liebe
Dea