Jessica Durlacher: Die Stimme
Sonntag, 31. Juli 2022
Rezension
Eine Familie in Amsterdam beschäftigt eine junge Frau aus Somalia als Kindermädchen. Amal ist schön, stolz und trägt Abaya sowie Kopftuch. Sie ist also Muslima. Die Familie ist jüdisch. Kann das funktionieren?
Zelda, Bor und ihre Kinder sind eine jüdische Familie, die ein sorgenfreies Leben in Amsterdam führt. Zumindest finanziell sorgenfrei. Denn auf ihnen liegt ein Trauma, seit sie am Morgen des 11.9.2001 in New York auf einer Dachterrasse mit Ausblick auf das World Trade Center von einem Rabbi getraut wurden. Die Kinder waren damals schon dabei und verstanden kaum, was sie dort sahen. Doch die Flucht durch den zerstörten Stadtteil Manhattan hat alle geprägt.
Und jetzt eine muslimische Kinderfrau? Kann Zelda ihr vertrauen? Kann sie Amal das wichtigste auf der Welt, ihre Kinder, anvertrauen?
Andererseits wohnt Amal unter schwierigen Bedingungen in einer nahen Flüchtlingsunterkunft und benötigt dringend Unterstützung und auch vielleicht Familienanschluss. Zelda springt über ihren Schatten und beauftragt Amal mit der Obhut über ihre Kinder.
Musik
Sam, ein Sohn der Familie, ist ein sehr musikalisches Kind. Er strebt eine Karriere als Pianist an und wird professionell unterrichtet. Er hat ununterbrochen Musik im Ohr und im Kopf. Auch Amal hört immer Musik.
Irgendwann stellt sich heraus, dass Amal eine wunderbare Stimme hat. Mit Unterstützung der Familie meldet sie sich zu einem Gesangswettbewerb an, der im Fernsehen ausgestrahlt wird. Sowas wie „The Voice“ in den Niederlanden.
Musik ist so auch ein Thema im Roman, vor allem die Kraft und Macht, die Musik ausüben kann. Einige Stücke werden erwähnt, klassische Musikstücke die Sam auf dem Klavier spielt und auch modernere Songs, die Amal singt.
Ehe
Steht eine Verbindung, die vor dem einstürzenden World Trade Center geschlossen wurde unter einem schlechten Stern?
Die zwei führen mit ihren Kindern ein glückliches Leben. Doch ist die Beziehung nicht wirklich gleichberechtigt. Außerdem blitzen hier und da Unstimmigkeiten auf. Das ist natürlich ganz normal in einer Ehe. Aber am Ende türmen sich diese Spannungen zu großen Zweifeln und Vertrauensverlust auf. Und zwar auf eine Art und Weise, dass sie nicht mehr geklärt werden können.
Amal
Ein Kennzeichen von Durlachers Literatur sind die detaillierten Charakterzeichnungen.
Wobei Amal sich dem auch ein Stück weit entzieht. Was aber auch an der enormen Veränderung liegt, die sie durchläuft. Außerdem ist der ganze Roman aus Zeldas Sicht geschrieben, so dass Amals Innenleben bewusst ein Geheimnis bleibt.
Sie hat buchstäblich nichts, nur die Kleidung, die sie am Leib trägt. Sie flüchtete aus Somalia, einem Land, in dem Frauen kaum Rechte haben. Amal wurde zwangsverheiratet, beschnitten und das Singen wurde ihr auch noch verboten.
Doch sie ist intelligent, selbstbewusst und sehr wissbegierig. Schnell lernt sie Niederländisch und auch sich in diese Kultur einzufügen. Aber nur soweit sie das auch selbst akzeptieren möchte. Sie scheint sich und ihren Überzeugungen treu zu bleiben.
Anfangs trägt die junge Frau ihre religiöse Identität für alle sichtbar mit sich herum, allein durch die Kleidung. Kopftuch und Abaya verhüllen alles, bis auf das Gesicht selbst.
Als sie bei ihrem ersten Fernsehauftritt diese traditionellen Kleidungsstücke ablegt, bricht die Hölle los. Morddrohungen die durch eine Fatwa „legalisiert“ werden. Sie muss um ihr Leben bangen, Und nicht nur sie. Auch die Familie, die sie unterstützt und aufgenommen hat, gerät ins Visier der möglichen Attentäter.
Die Motive, warum Amal diesen Schritt wagt und mit dieser Kleidung ihre Religion abzulegen scheint, bleiben für mich undurchsichtig. Manchmal hatte ich das Gefühl, es war eine Art Werbestragie der Produzenten der Fernsehsendung oder als ob Amal sich selbst vermarktet.
Auch Zelda kann sich kein eindeutiges Bild von Amal machen
Ich kann nicht leugnen, dass ich bei ihr nicht auch willkürlich an Käuflichkeit denken musste. Mir war nicht entgangen, dass sich unter ihrem Talent zum Ruhm etwas subtil Berechnendes verbarg, etwas Manipulatives, die Absicht, andere gezielt zu verführen
Angst
Zelda versucht alles richtig zu machen. Sie überwindet ihre Ängste, die sie nach dem 9/11-Trauma beherrschen und vertraut Amal.
Doch durch die Morddrohungen wird das Leben der Familie total auf den Kopf gestellt. Überall Bodyguards, die selbst schon Angst machen.
Dann hat Zelda noch drei Kinder, die für sie an erster Stelle stehen. Sie müssen auf jeden Fall geschützt werden und sollen nicht selbst in Panik geraten. Eine schwierige Zwickmühle.
Diese Ängste, die ständige Bedrohung stellt Durlacher unheimlich intensiv dar.
Mutterschaft
Die Angst, das den Kindern etwas passiert, hat wohl jede Mutter. Auch ohne Morddrohungen die in der Luft liegen.
Doch Durchlacher beschreibt auch viel andere Aspekte von Mutterschaft, von denen mir einige doch sehr bekannt vorkamen. Diese Teile des Romans hätten vielleicht für die Handlung selbst gekürzt werden können, waren mir persönlich aber sehr wichtig. So zum Beispiel der Spagat zwischen Beruf und Kinderbetreuung. Ohne Berufsausübung ist die Mutter unzufrieden, mit, kommen die Kinder zu kurz. Dieses Dilemma wird sehr ausführlich beschrieben.
Mir war erstmal nicht klar warum, doch ich denke, so werden einige Handlungen Zeldas erst klar. Vor allem wird dem Spannungsfeld Islam – Judentum noch ein weiterer Aspekt zugefügt, den ich nicht vorwegnehmen möchte.
Die Probleme der einzelnen Kinder werden recht ausschweifend erklärt, vor allem der älteste Sohn Philip nimmt viel Raum ein. Da schließt sich der Kreis für mich erst ganz am Ende des Buches, als beschrieben wird wie Philips Lebensweg weiterging, nach den traumatischen Ereignissen im Roman.
Weitschweifig?
Diese für den Kontext im Roman sehr weit ausholenden Erzählungen haben mich irritiert. Ich dachte: wann kommt sie endlich auf den Punkt? Was ist hier das Thema?
Doch später fügt sich alles zusammen und ich verstehe, warum sie einige in der Vergangenheit liegende Ereignisse und die Besonderheiten der Kinder so detailliert beschriebt.
Außerdem wird dabei unterschwellig eine hohe Spannung aufgebaut. Kommendes wird angedeutet, aber nur sehr vage. So konnte ich als Leserin schon etwas erahnen, wollte aber unbedingt wissen was nun genau passieren würde. Alles läuft auf einen tragischen Höhepunkt zu, dessen Natur ich natürlich nicht verraten möchte.
Autorin
Jessica Durchlacher ist eine erfolgreiche niederländische Schriftstellerin. Ihr Leben wird viel durch ihren Vater geprägt. Er hat als einziges Familienmitglied den Holocaust überlebt.
Sie lebt mit ihrer Familie in Amsterdam. Diese Familie hat es literarisch in sich: ihr Mann ist Leon de Winter, die Tochter Solomonica de Winter. Alle erfolgreiche Schriftsteller. Auf dem Blog findet ihr meine Rezension zu Die Geschichte von Blue, dem Debütroman von Solomonica.
Was muss das für ein Familienleben sein? Alle drei werden übrigens werden in Deutschland durch Diogenes publiziert. Zum Teil „teilen“ sie sich auch die Übersetzerin Hanni Ehlers, die auch „Die Stimme“ aus dem Niederländischen übersetzte.
Fazit
Die Stimme von Jessica Durlacher ist ein spannender, intensiver, aktueller Roman, in dem Empfindungen wie Schmerz, Angst, Wut und Liebe regelrecht fühlbar werden.