Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Sonntag, 10. Juli 2022
Rezension Debütroman
Warum sollte ich ein Buch rezensieren, dass ich nicht verstanden habe? So geht es mir bei diesem Debütroman. Er hinterließ mir viele große Fragezeichen in meinem Gehirn.
Warum ich mich trotzdem an eine Buchbesprechung wage? Weil das Buch sprachlich einfach herausragend ist!
Worum geht es?
Die Ich-Erzählerin ist die Tochter eines türkischen Mannes und einer deutschen Frau. Sie bezeichnet sich im Buch als „Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater“. Sehr wahr, trifft das doch auf jeden Menschen zu. Da wird auch direkt klar: es geht hier nicht in erster Linie um eine Migrationsgeschichte und trotz der sehr ernsten Themen, die im Buch angesprochen werden, beinhaltet es auch eine kräftige Prise Humor.
Sie erzählt vom Leben mit den Eltern, Besuche bei den deutschen Großeltern und auch in Istanbul. Sie erzählt wie ihr Vater viel zu früh stirbt, von ihren Freundschaften, ihrer Magersucht und schweren Depressionen.
Soweit, so verständlich. Doch die Erzählweise ist nicht linear und häufig surreal. Auch das Inhaltsverzeichnis zeigt das treffend an. Einige Kapitelnamen gibt es mehrmals, sie werden mit römischen Ziffern durchnummeriert, stehen aber nicht hintereinander im buch.
Manchmal habe ich ein beschriebenes Ereignis als surreal abgetan, das es aber wohl gar nicht wahr. So war ich immer ein wenig verwirrt und kann die Hauptaussage des Romans nicht greifen.
Surreal
Ein Beispiel: Önder beschreibt das Familienleben so, dass die Familie nicht in einem Haus, sondern auf einer Blumenwiese lebt. Die einzelnen Räume sind Teilen der Wiese zugeordnet. Ein schönes, idyllische Bild. Vielleicht haben sie sich auch so das Grundstück vor dem Hausbau angesehen und Pläne gemacht und ihre Träume ausgelebt. Dieses Bild verstehe ich.
Aber: Es gibt zum Beispiel einige Gewaltszenen, in denen ihr bereits verstorbener Vater sie schlägt: das verstehe ich wiederum überhaupt nicht. Auch der Titel bleibt mir ein Rätsel. Das Thema „Fallen“, auch synchrones Fallen, wird zwar mehrmals erwähnt, aber so ganz bin ich nicht dahintergekommen. Nebenbei bemerkt: merken kann ich mir den Titel nicht.
Der Vater
Die anfängliche Wiesen-Idylle wird durch den äußerst blutigen Tot des Vaters zerstört. Die Ich-Erzählerin, zu dem Zeitpunkt ein kleines Kind, fühlt sich verantwortlich dafür. Nachdem die Blumenwiese statt Haus als Bild zu sehen war, habe ich den Tod des Vaters auch nur als Bild wahrgenommen. Hat er die Familie vielleicht verlassen? Hat sie einen brutalen Film im Fernsehen gesehen und das Blut irgendwie auf den Vater übertragen?
Aber es wird immer wieder im Roman darauf Bezug genommen, so war es also wohl doch nicht nur eine Metapher. Vielleicht habe ich mir hier gewünscht es wäre eine.
Depression
Die junge Frau fällt immer wieder in tiefe Depressionen. Das hier gewählte Bild stand mir so wahnsinnig plastisch vor Augen und ist eine tolle Metapher für diese Erkrankung.
Die Ich-Erzählerin spaziert abends nach Hause und fällt mitten auf der Straße in ein tiefes Loch. Dort kommt sie alleine nicht mehr heraus. Erst versucht sie es mit allen Kräften. Doch sobald die Kraft nachlässt, lassen die Versuche und auch der Wunsch nach einem Entkommen nach. Sie richtet sich in diesem Loch ein. Ab und zu schaut jemand herein und will ihr helfen, andere gehen einfach nur vorbei, obwohl sie ihre Not erkennen. Am übelsten ist es, dass ihre Notlage auch schamlos ausgenutzt wird.
Magersucht
Ein weiteres Thema, dass immer wieder aufkommt ist Magersucht. Ein wenig wird beleuchtet, wie es dazu kam. Einer der Gründe liegt im starken Übergewicht des toten Vaters. Es ist schon fast lustig eschrieben, wie sie versucht, diese Erkrankung nach außen zu vertuschen. Ihre schweren, übervollen Einkaufstaschen erklärt sie mit zu erwartenden Gästen. Nachdem sie sich übergeben hat wird alles geputzt, damit niemand etwas sieht oder riecht. Ach hier nimmt die Umwelt kaum Notiz davon, ähnlich wie bei der Depression. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie durch ihre Maßnahmen vor allem sich selbst betrügt.
Und da es nichts und niemanden auf der Welt gab, der komplett sauber war, nicht einmal sie selbst, egal, wie hart sie an sich herumschrubbte, erarbeitete sie einen Rettungsplan, der aus trinken, rauchen und sich übergeben bestand.
Sex und Gewalt
Beides immer wieder Thema. Die junge Frau beschreibt Beziehungen, in die sie sich fallen lässt, aber herbe enttäuscht und im Stich gelassen wird. Immer wieder liegt ein Mann auf ihr, oder sie auf ihm, Zärtlichkeit hat keinen Platz. Es gibt auch eine Szene, die eine Vergewaltigung beschreibt.
Und dann gibt es ein Kapitel, in der der bereits längst tote Vater sie mit einem Knüppel verprügelt, angefeuert von der Mutter. Ein Alptraum? Dort fand ich den Satz „Die Tochter gehört wieder mir“, bei dem ich direkt an sexuellen Missbrauch dachte, obwohl ich vorher nichts dazu herausgehört habe. Ein Kapitel, das viele Fragen in mir aufwirft. Es endet mit folgendem Absatz:
Was die Eltern verbieten, ist, was die Jungs wollen. Was das Mädchen will, ist, was die Eltern verbieten. Was die Jungs wollen, ist, was das Mädchen verbietet. Was die Eltern wollen, findet das Mädchen langweilig. Was die Jungs langweilig finden, wollen die Eltern. Aber was das Mädchen will, fragt keiner.
Die Autorin
Yade Yasemin Önder wurde 1985 in Wiesbaden geboren. Nach einem etwas verschlungenen Bildungs- und Berufsweg studierte sie unter anderem Literarisches Schreiben in Leipzig.
2018 gewann sie den Open Mike. Sie schrieb bereits Theaterstücke, erhielt Stipendien, sowie gewann die Autorin mehrere Preise für ihre Arbeit. Für ihren Debütroman „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ erhielt sie 2022 den Debütpreis der lit.Cologne.
Fazit
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron, der Debütroman von Yade Yasemin Önder, ist ein rasanter Roman voller starker surrealer Bilder. Obwohl mir einiges rätselhaft bleibt, schätze ich die Kraft dieser Bilder und der gewählten Sprache sehr. Trotz der für mich ungeklärten Themen ist mir klar: das nächste Buch der Autorin werde ich auch lesen!
Weitere Buchtipps
Weitere empfehlenswerte Bücher zum Thema Depression sind zum Beispiel Du darfst nicht alles glauben was du denkst von Kurt Krömer und Die Welt im Rücken von Thomas Melle.
Mit dem Thema Magersucht beschäftigt sich auch Tage ohne Hunger von Delphine de Vigan