[Rezension] Delphine de Vigan: Tage ohne Hunger
Sonntag, 25. Februar 2018
Der Debütroman der Autorin
Endlich! Endlich gibt es eine Übersetzung des Debütromans meiner Lieblingsschriftstellerin. Seit langem wartete ich auf „Tage ohne Hunger“.
Delphine de Vigan ist mit No & ich bekannt geworden. Inzwischen gibt es viele Bücher auf Deutsch von ihr: No & ich; Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin; Das Lächeln meiner Mutter; Nach einer wahren Geschichte.
„Nach einer wahren Geschichte“ haben Silvia und ich beide gelesen und uns darüber hier auf dem Blog ausgetauscht.
Tage ohne Hunger, ihr Debüt, 2001 erschienen, beruht auf eigenen Erfahrungen der Autorin. Und man merkt diesem Buch an, dass sie weiß, wovon sie spricht.
Inhalt
Laure ist 19 Jahre alt, als sie mehr tot als lebendig in eine Klinik geht. Sie friert ständig und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie erkennt, dass ihre Situation kritisch für sie ist.
In ihrem Bauch klopfte der Tod, sie konnte ihn berühren!
Dr. Brunel ist ihr behandelnder Arzt, bemüht sich sehr um seine junge Patientin, ermutigt sie zu essen, damit sie wieder zunimmt und vielleicht irgendwann wieder ein normales Leben führen kann.
Laures Eltern sind keine Hilfe. Die Mutter, selbst psychisch sehr angeschlagen, kommt sie besuchen. Ihr Vater – lange getrennt von der Mutter – macht ihr Vorwürfe, weil sie nicht „funktioniert“.
Die Tage im Krankenhaus sind lang. Laure strickt, liest und lernt ihre Mitpatienten besser kennen. Fatima mit ihrer großen Familie, die immer zu ihr zum Fernsehen kommt. Die Blaue, die ihr immer Vorhaltungen macht, Catherine, die zu dick ist, weil sie zu viel trinkt. Der Schwergewichtige, der im Gegensatz zu Laure abnehmen muss.
Die Probleme auf der Station sind vielfältig. Aber immer dreht es sich ums Essen. Die einen essen zu wenig, gar nicht oder schlichtweg zu viel.
Laure bekommt einen Schlauch gesetzt, mit dem sie künstlich ernährt wird. Zusätzlich muss sie auch das normale Krankenhausessen zu sich nehmen. Sie braucht lange fürs Essen, sie muss sich erst langsam wieder an Essen gewöhnen. Ständig wird sie gewogen. Sie muss sich an die Kilos, die sich auf ihrem Körper breit machen, gewöhnen. Es ist ungewohnt, wieder einen Po zu haben, einen Bauch, den sie fühlen kann. Aber es kommen immer wieder Zweifel, ob das richtig ist. Sie hat das große Glück, einen einfühlsamen, attraktiven Arzt zu haben, in den sie sich ein klein wenig verliebt.
Ein kurzes intensives Buch
Dieses Buch ist kurz – sehr kurz. Die 170 Seiten sind nicht einmal voll geschrieben. Immer wenn ein neuer Abschnitt anfängt, sind noch einige Seiten zwischendrin frei. Aber trotz allem ist dieses Buch unheimlich intensiv. Der Leser fühlt mit jedem Kilo, dass Laure zunimmt, mit. Denn obwohl das Zunehmen das Ziel ist, ist es nicht leicht für Anorexie-Patienten, das zu verkraften. Sie haben mit Absicht abgenommen, um andere Schmerzen auszuschalten. Mit jedem neu gewonnenen Kilo haben sie Angst davor, dass diese Schmerzen zurückkommen.
Später wird sie begreifen, dass sie unter anderem genau das angestrebt hatte, ihren Körper zu zerstören, um nichts mehr von außen wahrzunehmen und auch in ihrem Fleisch und ihrem Bauch nur noch den Hunger zu spüren.
Die Story wird in abgehackten kurzen Absätzen erzählt. Aus wechselnden Perspektiven. Zeiten wechseln ständig. Jedes Wort ist gut gewählt und in de Vigans typischem Schreibstil. Dieses Debüt ist sprachlich genauso perfekt wie ihre folgenden Bücher.
Delphine de Vigan ist ungefähr mein Jahrgang und Laure erzählt die Geschichte, die in den 1980igern spielt. Viele Leser können vielleicht mit manchen Details nichts anfangen. Wer kennt denn noch „Dallas“ Und „JR“? Für mich war das ein kleiner Rückblick auf meine eigene Jugend.
Fazit
Obwohl ich früher Kontakt mit Magersuchtpatienten hatte, konnte ich die Problematik nie ganz verstehen. Es war mir einfach nicht klar, warum diese Menschen es so weit mit ihrem Körper kommen lassen. Und sich anfangs dabei noch schön finden. Dieses Buch hat sehr viel zum Verständnis beigetragen und dafür bin ich der Autorin unendlich dankbar. Schade nur, dass diese Übersetzung erst jetzt gekommen ist. Warum nur?
Delphine de Vigan
TAGE OHNE HUNGER Roman 176 Seiten, mit Lesebändchen, Originalverlag: Grasset, Paris 2001 , Originaltitel: Jour sans faim Erscheinungstag: 22.08.2017 ISBN 978-3-8321-9837-4 Übersetzung: Doris Heinemann |