Nach einer wahren Geschichte
Sonntag, 21. August 2016
Seit wir den gemeinsamen Blog haben, passiert es eher selten, dass wir (Astrid und Silvia) das gleiche Buch lesen.
Doch wir schätzen die Bücher von Delphine de Vigan beide sehr und dann gab es auch noch bei der LitBlogConvention in Köln für jeden ein Rezensionsexemplar.
Es war direkt klar: das wollen wir beide lesen. Damit wir uns nicht streiten müssen, wer die Rezension veröffentlicht, wollten wir das Buch gemeinsam rezensieren. Doch wie macht man das?
Das Buch
Ich-Erzählerin, Delphine de Vigan, will sich nach dem Erfolg ihres letzten Buches etwas erholen. Sie nimmt sich vor, nach der Welle der Lesungen und Veranstaltungen, in denen sie das sehr populäre Buch über das Verhältnis zu ihrer Mutter vorstellte, ein neues zu beginnen. Ein grobes Thema schwebte ihr schon vor. Auf einer Feier lernt sie eine Frau kennen. L.. Sie reden und trinken und haben einen schönen gemeinsamen Abend. L. ruft Delphine später an, sie verabreden sich.
L. ist sehr elegant gekleidet und zurecht gemacht, Delphine bewundert dies. L ist auch Autorin, allerdings arbeitet sie als Ghostwritern, ihr Name wird nie genannt. Ihre Bücher können nur am letzten Wort erkannt werden: „ENDE*“. Darauf besteht sie. L. trifft sich immer öfters mit Delphine, vereinnahmt sie immer mehr. Delphine lässt sich das gerne gefallen. Lebt ihr Freund doch in einer anderen Wohnung und ist oft wochenlang auf Reisen. Auch ihre Zwillinge, die gerade Abitur machen, ziehen bald aus. Diese Lücken füllt L. Sobald jemand anderes da ist, zieht L. sich zurück, angeblich, um nicht zu stören.
Diskussion
Wir unterhielten uns über das Buch. Das kam dabei heraus:
Silvia: Astrid, wie gefiel dir der neue Roman von Delphin de Vigan?
Astrid: Ein faszinierendes Buch! Da wir das Buch zwei Monate vor dem Erscheinungstermin lesen durften, gab es noch keine Rezensionen in Deutschland und auch nur wenige Informationen darüber. Selten, dass ich vor Beginn eines Buches so wenig darüber weiss. Sollte ich vielleicht häufiger machen! Wir sind beide Fans der Autorin, was gefällt Dir an ihren Büchern?
Silvia: Ich lese ihre Bücher sehr gerne, die Sprache ist einfach schön, die Inhalte allerdings nicht unbedingt leicht verdaulich, egal ob es im Mobbing, Obdachlosigkeit oder ein kompliziertes Mutter-Tochter-Verhältnis geht. Und so ist es auch mit diesem Buch. Es war spannend und beängstigend. Eine Mischung aus Steven King und Dostojevski. Die Zitate von Steven King am Anfang der einzelnen Buchteile passten auch ziemlich gut zum Buch. Hast Du „Sie“ bzw. Misery von King gelesen?
Astrid: Muss ich mich jetzt hier outen? Ich habe noch nie einen King gelesen und konnte ehrlich gesagt mit den Zitaten nicht viel anfangen.
Verfilmung des Buches
Silvia: Ich habe auch letztens hier gelesen, dass „Nach einer wahren Geschichte“ von Roman Polanksi verfilmt werden wird! Ich bin gespannt, wie die Hauptrollen besetzt werden. Im Artikel über den Film wird das Buch von Vigan ein „Thriller“ genannt. Das kann ich nicht nachvollziehen. Oder wie siehst du das?
Astrid: Ich würde es als Psychothriller einstufen. Manchmal hatte ich schon Gänsehaut!
Silvia: Ich kann mich erinnern, wie ich in der 7. Klasse auch mal versucht habe mich so anzuziehen wie eine Freundin. Das Ergebnis war grauenvoll. Hast du auch schon mal eine Freundin gehabt, die dir immer ähnlicher wurde?
Astrid: Nein! Oder ich habe es nicht bemerkt! Aber den Reiz kennen wir doch alle, oder? Wir sehen etwas tolles bei anderen, wollen das auch tragen und realisieren gar nicht, dass das nicht zu uns passt. Haben Dich die Themen in dem Buch eigentlich angesprochen?
Themen des Buches
Silvia: Themen des Buches sind für mich Identität (Diebstahl und Verlust) und auch Literatur selbst. L. verlangt von Delphine sehr nachdrücklich, dass sie nur noch Bücher schreibt, die sich auf die eigenen Erlebnisse beziehen. Alles andere würde auch das Publikum nicht mehr wollen. Alles soll authentisch und echt sein. Fantasie dürfte in echter Literatur keine Rolle mehr spielen. Das Thema Wahrheit geht damit einher:
Aber es gibt keine Wahrheit. Die Wahrheit existiert nicht. Mein letzter Roman war nur ein ungeschickter und unvollkommener Versuch, mich etwas Unangreifbarem zu nähern. Eine Art, die Geschichte durch ein verzerrendes Prisma hindurch zu erzählen, ein Prisma aus Schmerz, Reue und Leugnen. Auch aus Liebe.
Bei einigen Autoren habe ich schon das Gefühl, dass sie ihr Leben aufblättern. Ausser bei Krimis frage ich mich oft, ob die Autoren das eigene verarbeiten. Dann sehe auch das Thema der Veränderung. Das Leben von Delphine ändert sich stark (Buch ist fertig und auf dem Markt etabliert, Kinder werden flügge und ziehen aus); Ereignisse, die sicher auch einen starken Einfluss auf die Handlung haben. Gerade das Problem, vielleicht in ein Loch zu fallen, wenn die Kinder ausziehen, sehe ich bei einigen Freundinnen, die sich gerade in einer ähnlichen Situation befinden.
Macht
Aber mal was anderes: innerhalb von drei Monaten brachte L. Delphine so weit, dass sie keine Zeile mehr schreiben konnte. Wortwörtlich. Weder Einkaufszettel, eMails, nichts. Schon mal gar kein neues literarisches Werk. Kannst Du Dir vorstellen, das jemand so viel Macht über Dich gewinnt?
Astrid: Ja, Du etwa nicht? Dieses Buch zeigt sehr eindrücklich auf, wie einfach und schnell so etwas gehen kann. Es gibt immer wieder Lebenssituationen, in denen man sehr empfänglich dafür ist.
Silvia: Gibt es eigentlich Bücher von der Autorin, die wir noch nicht gelesen haben?
Astrid: Gab es nicht vor „No und ich“ noch ein Buch? Ich habe irgendwo im Hinterkopf, dass sie auch mal ein Buch über Magersucht geschrieben hat. Ist das vielleicht gar nicht übersetzt worden? Im neuen Buch werden viele andere Bücher erwähnt, das findest Du doch immer sehr anregend. Auch Filme werden erwähnt und beschrieben. Hast Du Dir ein Buch oder einen Film notiert, dass du deshalb lesen bzw. sehen möchtest?
Silvia: Ich habe mir die Filme „Water Lillies“ und „Asphalt-Blüten“ auf meine Liste genommen. Die Seiten, in denen L. die Titel von Büchern in Delphines Bücherregal vorliest habe ich mir auch markiert. Da muss ich mich nochmal durch arbeiten.
Realität oder Fantasie?
Silvia: Im Buch schreibt Delphine, dass sie nach dem Buch über ihre Mutter immer wieder gefragt wurde „ist das alles wahr?“. Wie sehr wird sie wohl nach diesem Buch mit dieser Frage konfrontiert? Was würdest Du sie fragen, wenn du Gelegenheit dazu hättest?
Astrid: Emotional hat mich dieses Buch fertig gemacht. Ständig habe ich mich gefragt, was ist an der Geschichte wahr? Am liebsten hätte ich der Autorin nach jedem Leseabschnitt eine Mail mit Fragen geschickt. Einmal war der Drang nach Antworten so extrem, dass ich mich mit den französischsprachigen Besprechungen auseinandergesetzt habe. Leider haben mir die aufgrund meiner fehlenden Sprachkenntnisse nicht weiter geholfen. Habt ihr Google schon mal übersetzen lassen?
Silvia: Nein, das habe ich noch nie ausprobiert. Aber zur Wahrheit habe ich im Buch noch ein Zitat gefunden:
Das könnte übrigens ein literarisches Projekt sein, ein ganzes Buch zu schreiben, das sich als wahre Geschichte ausgäbe, ein Buch, von dem behauptet würde, es sei von wahren Ereignissen inspiriert, das jedoch völlig, oder fast völlig, erfunden wäre.
Astrid: Am 15. September kommt die Autorin nach Hamburg zum HarbourFrontFestival. Mal sehen, ob ich dort einige Antworten bekomme. Gehst Du auch auf ihre Lesung, wenn sie einen Tag vorher nach Köln kommt?
Silvia: Ja, klar! Darauf freue mich sehr. Drei Freundinnen aus dem Lesekreis wollen auch mit. Das wird sicher ein spannender Abend.
Lieblingsstelle
Silvia: das Zitat, das ich ausgewählt habe ist vielleicht literarisch nicht so wertvoll, beschreibt aber sehr gut, was ich bei mir und anderen Eltern von Teenagern und jungen Erwachsenen beobachte. In dieser Textstelle denkt Delphine über ihre Kinder nach:
Und dann war da diese Frage, die mir manchmal durch den Kopf ging, wenn ich versuchte zwei Bilder nebeneinanderzustellen: Louise und Paul bei der Geburt (zwei winzige Wesen, die im Abstand von drei Minuten durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren und zusammen gerade mal fünf Kilo gewogen hatten) und Louise und Paul heute (zwei junge Leute von gesunder Konstitution, 1,78m, beziehungsweise 1,95 m groß); diese Frage, die ich manchmal laut aussprach, wenn ich sie morgens in der Küche beobachtete, diese Frage, die meine Verblüffung ausdrückte, ja, das war das passende Wort, als hätte die Zeit zwischen diesen beiden Bildern nicht exisitert:
„Was ist bloß passiert?“
Astrid: Ich habe ja früher immer gedacht, dass ein Schriftsteller sich an den Schreibtisch setzt und dass die Worte federleicht zu Papier gebracht werden. Dass das harte Arbeit ist, habe ich erst später realisiert.
Alles war eine Sache des Funkens, des Auslösers. Dann kam das Schreiben, diese einsamen Monate vor dem Computer, dieser Kampf mit bloßen Händen, in dem nur das Durchhaltevermögen den Sieg erringen konnte.
Fazit
Silvia: ein spannender Roman, der mit den Begriffen Wahrheit, Literatur und Identität jongliert. Beklemmend, mitreissend und wunderbar geschrieben.
Astrid: Ein faszinierendes Buch, das ich bald nicht mehr aus der Hand legen konnte. Es überraschte immer wieder und das Ende war für mich nicht absehbar. Alles könnte so gewesen sein. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Roman sind fließend und das macht die Sache sehr spannend.
ENDE*
Infos
Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte
Übersetzt von: Doris Heinemann
Dumont Verlag, ISBN 978-3-8321-9830-5 , 350 Seiten,
[D] 23,00 € (gebundene Ausgabe)
Hallo ihr 2,
da ich das Buch auch noch lesen möchte habe ich den Artikel bisher nur überflogen und euer Fazit gelesen. Es scheint sich ja wirklich zu lohnen. Das Buch war mir auf der LBC gar nicht aufgefallen.
Das Buch hier in Interview-Form zu präsentieren ist jedenfalls eine tolle Idee und mal was anderes als die üblichen Rezensionen. Danke und liebe Grüße
Thomas
Die gemeinsame Rezension hat Spaß gemacht und war auch für uns mal etwas anderes. Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt.