Birgit Rabisch: Wir kennen uns nicht
Freitag, 16. Dezember 2016
Mütter und Töchter
Eine Beziehung, die in vielen Familien als konfliktreich angesehen werden kann, ist die zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Dieser Roman von Birgit Rabisch beschäftigt sich mit einer besonders verfahrenen Ausprägung dieser Konstellation.
Über das Buch
Lena ist eine gefeierte Bestsellerautorin. Die ausgeprägte Feministin hat mit ihren Romanen viele Frauen inspiriert. Dabei hielt sie sich relativ eng an das eigene Leben. Die verschiedenen Phasen verarbeitete sie immer mit einem neuen Buch. So auch die Zeugung und Geburt ihrer Tochter. Die Namen und zum Teil auch die Ereignisse sind zwar im Buch immer verfremdet, aber allen ist klar, dass sie über ihr eigenes Leben schreibt.
Die Tochter Ariane ist jetzt eine erfolgreiche Verhaltensforscherin. Die beiden haben wenig Kontakt. Ariane fühlte sich von ihrer Mutter immer zurückgesetzt, abgeschoben, nicht beachtet. Da hat sie sich eine Art Ersatzeltern gesucht, und sich schon früh komplett abgenabelt.
Im Buch wechseln die Perspektiven von Mutter und Tochter immer ab. Zum Teil überlappen sich die Ereignisse, es wird klar, dass beide keine Ahnung von der anderen haben. Sie kennen sich nicht wirklich. Der einzige Kontakt besteht aus sehr seltenen Telefonaten, in denen sich beide Frauen sehr knapp ausdrücken und nie auf ihre wirklichen Gefühle eingehen.
Sie haben nie ein wirklich offenes Gespräch miteinander geführt.
Verhaltensforschung
Birigt Rabisch behandelt in ihren Romanen auch immer ein wissenschaftliches Thema. In diesem Buch ist es die Verhaltensforschung an Tieren. Ariane arbeitet an verschiedenen Projekten mit, in dem die Übertragung bisher rein menschlicher Verhaltensweisen auf Tiere überprüft wird. Speziell wird „Theorie of mind“ thematisiert. Ariane arbeitet mit Raben und später mit Hunden. In den Projekten geht es um Vertrauen und Verzeihen. Beides Elemente, die in der Beziehung zwischen Lena und Ariane fehlen.
Gegensätze
Das Buch lebt von der Beschreibung von Gegensätzen. So bedient sich Rabisch oft einer Schwarz-Weiß-Malerei: zum Beispiel Arianes unterkühltes Elternhaus im Gegensatz zur fröhlichen Großfamilie ihres Partners. Oder auch Arianes Selbstbild und das Bild, das Lena in ihren Romanen von der Romantochter malt. Diese Kontraste werden auch im Cover des Buches sehr schön verdeutlicht.
Die Kontraste zwischen den beiden Frauen sind so stark, dass sie die Ähnlichkeiten zwischen ihnen gar nicht wahrnehmen können.
Lieblingsstelle
Lena geht es an einer bestimmten Stelle des Buches sehr schlecht. Sie denkt an Selbstmord und wird durch einen fast skurrilen Gedanken daran gehindert:
„Sie kann sich vorstellen, nicht mehr zu sein. Aber sie kann sich nicht vorstellen, über ihr Nichtsein nicht schreiben zu können. Sie hat bisher ihr ganzes Leben in Schrift verwandelt. Wenn sie ihren Tod nicht in Schrift verwandeln kann, wozu soll er gut sein?“
Das Ende
Der letzte Satz verdreht das ganze Buch. Danach muss vom Leser alles neu bedacht und interpretiert werden. Der Inhalt, die Perspektiven und meiner Meinung nach auch der Schreibstil. Doch das kann ich einfach nicht vorwegnehmen.
Lesekreis
Dieses Buch haben wir in einem Lesekreis gelesen, der nur aus Frauen besteht. Nicht nur das, alle Frauen darin die Kinder haben, haben nur Töchter. So konnten wir also selbst auf viele Erfahrungen in diesem klassischen Konfliktfeld zurückgreifen. Zum Glück sah es bei keiner so schlimm aus wie zwischen Lena und Ariane (allerdings haben wir unsere Töchter nicht dazu befragt…). Da ich mich zufällig am gleichen Tag, an dem wir uns zur Besprechung dieses Buches trafen, mit meiner Tochter heftig gezofft hatte, konnten wir gut über dieses Thema diskutieren und sprachen auch über mögliche Maßnahmen, wenn es mal in einer Familie zu schlimm kommen konnte: Familienaufstellung und weitere Analysemethoden haben wir diskutiert. Es war ein sehr anregender Abend, zu dem uns dieses Buch inspiriert hat.
Infos Zum Buch
Wir kennen uns nicht Birgit Rabisch duotincta Verlag ISBN 978-3-946-086222 197 Seiten, [D] 14,95 € |
Lieber Silvia,
danke für die Rezension. Bisher ist mir der Titel noch nicht aufgefallen, da es aber wirklich sehr interessant klingt, setz ich es auf die Merkliste.
Zum Glück hatte ich zu meiner Mutter ein sehr inniges Verhältnis auch wenn es nicht immer leicht zwischen uns war.
Die eigenen Fehler erkennt man aber meist erst wenn man älter ist.
Liebe Grüße
Ela
Du hast es gut getroffen. Im Konflikt glaubt man sich selbst im Recht, später kann man es anders sehen. Manchmal ;))