Geschichten aus Tel Ilan
Dienstag, 25. August 2015
Seit der Leipziger Messe schleiche ich immer um das Buch „Judas“ von Amos Oz herum. Aber so richtig traue ich mich nicht daran. Da kam es mir ganz gelegen, dass in einem der Lesekreise bei denen ich mitmache, ein anderes Buch dieses Autors ausgewählt wurde.
Geschichten aus Tel Ilan
Tel Ilan ist ein fiktives Dorf in der israelischen Provinz. Das Dorf befindet sich im Wandel: viel hippe Geschäfte, die edle, moderne landwirtschaftliche Erzeugnisse und Kunsthandwerk anbieten, sorgen für an freien Tagen für Kundschaft. Die meiste Zeit ist das Dorf aber seinen Bewohnern überlassen. Diese sind nicht alle so hipp und modern. Und einige sind auch ein wenig seltsam oder erleben seltsame Dinge.
Da ist zum Beispiel die Krankenschwester Gili, die an der Bushaltestelle auf ihren geliebten Neffen wartet, der aber nicht auftaucht. Wenn der Leser Gilis Gedanken lauscht, bekommt er nach und nach ein umfassendes Bild dieser tief vereinsamten Frau. Ein Bild, das sich auf den ersten Seiten dieser Geschichte ganz anders zeigte.
Kafkaesk
Beim Lesen fühlte ich mich oft an andere Autoren erinnert:
In „Erben“ fühlte ich mich wie in einer Geschichte von Kafka. In „Verloren“ meinte ich an E.A. Poe zu lesen.
Die Geschichten haben nicht diese fatalistische Grundstimmung, die ich aus anderen zeitgenössischen Romanen kenne. Die Stimmung ist eher traurig, von Einsamkeit und Generationenkonflikten beherrscht.
Es ist erstaunlich, wie eine Person in einer so kurzen Geschichte so sehr entwickelt werden kann. Zum Beispiel in der Geschichte „Warten“: Beni Avi, der Bürgermeister wartet auf seine Frau. Anfang war ich begeistert von dieservermeintlich guten Beziehung der Beiden. Doch nach und nach kam immer mehr ans Licht. Am Ende wird er wohl vergebens warten.
Einige Personen Plätze, Strassen kommen mehrmals vor. So wird immer ein lockerer Zusammenhang dargestellt. Ich kann mir gut vorstellen, das Gili auf ihrer Suche dem Bürgermeister oder dem Makler aus einer anderen Geschichte begegnet.
Einige Geschichten haben auch leicht mystische Ansätze. Da gibt es ein Haus, das so verwinkelt ist, das es einem Labyrinth gleicht. Jede Generation, jeder Bewohner hat ein Stück angebaut. Einfach irgendwo, an den Bestand. So wie es auch in einer größeren Gesellschaft einem Dorf, oder einem Staat passieren kann.
Gestalten sind kurz zu sehen und gleich darauf verschwunden. Nebel zieht auf. Es ist fast immer dunkel. Manches erinnert vage an eine Geistergeschichte. Einer glaube ich den Tod als Besucher erkannt zu haben. Dafür hat die letzte etwas von einer Dystopie.
In einer anderen Geschichte hört ein alter Mann nachts Grabgeräusche. Erst dachte ich seine Fantasie, oder Altersdemenz sei mit ihm durchgegangen. Doch dann hört ein weiterer Mensch diese Geräusche. Es ist, als ob andere diese Geräusche nur hören, wenn sie vorher eine Art Konflikt mit dem alten Mann beigelegt haben. Als ob es plötzlich eine tiefere Verbindung gibt.
Die Geschichten sind vielfältig, regen zur Diskussion an. Oder dazu, sie einfach still einwirken zu lassen. Viele Fragen bleiben bewusst offen. (Zum Beispiel was der kleine Junge auf dem Cover mit dem Buch zu tun hat.) Das Buch lässt viele Interpretationsspielräume, je nachdem was die eigene Lebenserfahrung hergibt.
Es macht auf alle Fälle Lust auf mehr von diesem Autor!
Wie auch Judas, für das sie einen Übersetzerpreis bekam, wurde auch dieses Buch von Mirjam Pressler aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt.
Zum Abschluss noch ein Zitat, ein Absatz, den wir in unserer Lesekreis-Diskussion als zentral ansahen. In einer der Geschichten möchte ein junger Araber ein Buch schreiben. Einen Vergleich zwischen „Euch und uns“. Als er über sein Buch spricht sagt er
Wir sind unglücklich wegen uns selbst und wegen euch. Aber euer Unglück kommt aus der Seele…Aus eurem tiefsten Inneren.
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Amos Oz: Geschichten aus Tel Ilan, in einer Übersetzung von Mirjam Pessler,
Suhrkamp,190 Seiten, ISBN: 978-3-518-46209-6, als Taschenbuch € 7,99 [D]