[Rezension] Das kalte Blut von Chris Kraus
Sonntag, 28. Mai 2017
Schwere Kost auf 1200 Seiten
Wieder einmal hat mir die Buchmesse in Leipzig zu einem Bucherlebnis verholfen. Nie hätte ich mir diesen Schinken spontan in der Buchhandlung gekauft! Aber in Leipzig durfte ich Chris Kraus kennenlernen! Und dieser Autor konnte mich so fesseln, dass ich dieses Buch gerne lesen wollte.
Ein paar Bedenken waren jedoch da. Habe ich Lust, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen? Krieg und Nachkriegszeit aus Sicht der Täter? Schon wieder ein Kriegsbuch?
Inhalt:
Die deutschbaltischen Brüder Hub und Koja wachsen in Riga auf. Der Vater ist Maler, die Mutter entstammt einer Adelsfamilie. Die Familie adoptiert Ev, als ihre Eltern getötet werden und so wird sie Mitglied der Familie Solm. Die Brüder entwickeln nicht nur schwesterliche Gefühle für Ev.
Hub, der Ältere, bestimmt das Leben seines kleineren Bruders, in der Kindheit und auch im Erwachsenenalter. Hub studiert Theologie, Koja beginnt halbherzig ein Architekturstudium. Nebenbei lässt er sich von seinem Vater in die Kunst des Malens einweisen, was sich später als sehr wertvoll erweist. Ev wird Ärztin.
Als die Nazis an die Macht kommen, erleidet der Vater einen Schlaganfall und so müssen die Brüder für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Beide brechen ihr Studium ab und geraten in die Nazi-Maschinerie. Anfangs klingen die Aufträge harmlos. Durch immer dubiosere Umstände klettern sie die Karriereleitern des Sicherheitsdienstes nach oben. Hub ist der Aktivere dabei und bringt seinen Bruder immer in seinem Umfeld „unter“.
Überhaupt gelang es ihm ausgezeichnet, im Grunde alles, was wir taten, als etwas absolut Positives darzustellen. Und jeden Tag blickte er mich an mit Augen, die größer waren als das Leben, während ich nur Staub in meinen Adern spürte.
So gelangen die beiden in hohe Positionen im zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende finden sich beide beim Deutschen Nachrichtendienst wieder. Koja auch beim KGB und später sogar beim Mossad in Israel.
Ev, die jüdischer Abstammung ist, wird von Koja geschützt. Mit seinen künstlerischen Fähigkeiten und seinen Kontakten verhilft er ihr zu erstklassigen Papieren. Das Dreiecksverhältnis zwischen den Geschwistern nimmt großen Raum ein in diesem Roman, es kommt zu tragischen Verwicklungen.
Erzählt wird die Geschichte um die drei Geschwister aus Kojas Sicht. In den 70er Jahren liegt der schwer verletzt im Krankenhaus. Sein Bettnachbar, auch sterbenskrank, ist noch sehr jung. Diesem Hippie erzählt Koja sein Leben – auch wenn dem das gar nicht behagt.
Warum weinen Sie nicht? Ist Ihnen nicht klargeworden, dass Sie, bitte verstehen Sie das nicht falsch, unerträglicher Abschaum sind?
Pageturner
„Das kalte Blut“ ist ein Pageturner. Hat man einmal angefangen, ist es schwer, das Buch wieder wegzulegen. Ich glaube, ich habe noch nie ein so dickes Buch in so kurzer Zeit beendet.
Sprachlich macht es wirklich viel Spaß. Ja, das sollte man bei diesem Thema nicht vermuten. Mir gefällt der ironische, oft sarkastische Unterton und die dubiosen Umstände, in die die Brüder immer wieder geraten. Und trotzdem ist es schwere Kost. Machmal fragte ich mich, ob man sich diesem Thema auf diese burschikose Art nähern sollte.
Lieblingszitat
Ihr Chef nickte ihr unter seinem Lappen vage zu, hielt mir die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, ich trat ein, und noch bevor er irgendetwas sagen konnte, spürte ich einen Windzug, vielleicht wegen des gekippten Fensters, vielleicht wegen der noch nicht geschlossenen Tür, vielleicht auch, weil ich plötzlich alle acht Stockwerke, die ich soeben hinaufgestiegen war, in freiem Fall herunterstürzte, aber nirgendwo aufschlug.
Alle Personen in diesem Buch sind sehr starke Charaktere. Alle sind sehr überzeugend dargestellt, die Täter kommen nicht nur kaltblütig rüber, sondern zeigen auch ganz andere Gefühle. Und immer wieder stellt der Ich-Erzähler es so dar, als wollte er das alles gar nicht – dass alles einfach so geschah.
Um dieses Buch zu verstehen werden viele geschichtliche Tatsachen vorausgesetzt. Es wird nichts erklärt oder erläutert. Und es ist leider nicht möglich zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden. Aber das Vorwort ermutigt den Leser, das meiste als wahr einzustufen.
Warum dieses Buch?
Entstanden ist „Das kalte Blut“ aufgrund von Recherchen, die Chris Kraus über seinen Großvater durchführte. Er wollte wissen, welche Rolle sein Opa im Krieg inne hatte. Diese Recherchen nahmen einige Jahre in Anspruch und dabei entwickelte der Autor die Idee zu diesem Roman. Er weißt ausdrücklich darauf hin, dass es ein Roman ist und mit seiner Familiengeschichte nichts zu tun hat.
Ich bin gespannt! Der Autor ist auch Filmemacher. Ob er es schafft, „das kalte Blut“ zu verfilmen? In wie vielen Teilen? Ich würde mir den Film ansehen, obwohl ich einige Bilder, die ich im Kopf habe, ganz sicher nicht auf der Leinwand sehen möchte!
Ein paar Sätze des Autors zu seinem Buch
Fazit
Ein spannendes Buch über die Nazizeit und die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland. Über Geheimdienste, Spionage, den Bundesnachrichtendienst und die Menschen, die sich dahinter verbergen. Ein überaus lesenswertes Buch.
BUCHDATEN
Chris KrausDas kalte BlutGebundenes Buch, 1200 Seiten, ISBN: 978-3-257-06973-0 € 32,00 Verlag: Diogenes |
Liebe Astrid,
Ich durfte ihn auch kennenlernen und muss sagen,
Ich finde Chris Kraus ganz toll! Das Buch habe ich noch hier auf meinem SUB, werde es aber nach deiner Rezension ganz schnell zu lesen anfangen. Wenn Kraus dir gefällt, kann ich dir nur „Die Blumen von Gestern“ als Film oder Drehbuch Amt herzlegen. Ebenfalls ein toller Roman!
Lg Momkki
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Liebe Astrid,
bei Dir war es auch Leipzig, was? Ich konnte beim Buch meine Neugier ebenfalls nicht im Zaum halten 🙂 Ich hoffe, es ist okay, dass ich die Rezension unter meiner verlinkt habe? Jeder hat ja so seine anderen Schwerpunkte beim Rezensieren und ich dachte, da kann ich gleich mal meine Leser zu anderen netten Blogger*innen weiterschicken 😉
Ich denke übrigens immer noch an die tollen Kekse vom Bloggertreffen nach – tolle Sorte mit dem Lakritz!
Liebe Grüße
Sarah
Liebe Sarah,
klar, natürlich war es Leipzig. Wenn man einen so engagierten Autor kennenlernt, muss man das Buch einfach lesen! Und ich habe direkt Gefallen daran gefunden, mal wieder so einen dicken Schinken zu lesen.
Danke fürs Verlinken!
Kekse auf der Buchmesse wird es ab jetzt häufiger geben. Mal sehen, ob wir nächstes Mal wieder so eine außergewöhnliche Sorte finden 😉
LG
Astrid