Voran, voran, immer weiter voran
Mittwoch, 15. April 2015
Dies ist die Geschichte von Chic. Chic Waldbeeser. Er heiratet 1950 die hübsche, dralle Diane. Oder vielmehr heiratet sie ihn. Schon auf der Hochzeitsreise ist sie sehr skurril.
Trotzdem blickt Chic sehr optimistisch in die Zukunft. Darin ist er sehr gut: sich Träume für seine Zukunft auszudenken. Nur mit der Energie für die Umsetzung hapert es.
Das Buch beschreibt nicht nur das Leben und Innenleben von Chic, sondern auch von seinem Bruder Buddy. Sie haben beide unter einem Kindheitstrauma zu leiden: ihr Vater beging Selbstmord, indem er sich im eiskalten Winter des amerikanischen Mittelwestens nachts im Schlafanzug unter einen Baum setzte.
Dabei wird ein Zeitrahmen von 1950 bis 1998 bewältigt. In den 1990igern kommt auch noch Mary als Hauptperson hinzu. Während des Buches werden die Zeiten und Sichten immer wieder gewechselt. Am Anfang des Kapitels wird das jedes Mal spezifiziert, so dass immer klar ist, wann und bei wem man sich als Leser gerade befindet.
Chic ist eigentlich recht einfach gestrickt: seine Zukunftswünsche sind eher bescheiden. Ein normales Leben mit Haus, Frau, Kind und Hund strebt er an. Ein erreichbares Ziel. Oder?
Auch Mary hatte Träume: sie war mal eine ziemlich gute Pool-Spielerin und hat damit auch einiges an Geld verdient. Nur leider geriet sie dabei an die falschen Männer. „Du willst, dass sich jemand um dich kümmert. Du willst nicht, dass du dich um jemand kümmern musst.“ So hat sie immer die Verantwortung und damit das Geld abgegeben. Viele Jahre und auch Männer später landet sie nach einer sehr spontanen Heirat mit Green Geneseo auch im Mittelwesten. Green hatte eine sehr verklärte Vorstellung von seinem Traum Peoria, einer kleinen Stadt: „In Peoria schien immer die Sonne. Das Gras war grün, grüner als überall sonst…“. „…belegt durch das geflügelte Wort Wenn es in Peoria läuft…“. Nur leider läuft es in Peoria nicht. Mary arbeitet als Bedienung in einem abgetakelten Casino, in dem sie Chic, jetzt schon im „betreuten Wohnen“ beheimatet, kennenlernt. Green versucht sich unbedarft und total erfolglos als Buchmacher. „Klar, es klang gut, wenn er Mary erzählte, dass er Buchmacher sei, doch in Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, wie man Wetten einsammelte, oder auch nur dafür warb, dass man sie einsammelte.“. Und es lief im Laufe der Zeit immer schlechter für die beiden in Peoria. Green beschreibt die Stadt schnell anders: „… Stadt mit dem wahrscheinlich weltweit schlechtestem chinesischen Lieferessen.“
Fastfood spielt überhaupt eine sehr große Rolle in diesem Buch. Wohl typisch amerikanisch. Ich musste dabei an die Fernsehserie „The Middle“ denken, in dem die Mutter nach Hause kommt, die Burgertüten auch den Tisch schmeisst und laut ruft „Ich habe gekocht!“. Das scheint dort sehr nah an der Realität zu sein.
Kein amerikanischer Traum
Auch Chics Leben entwickelt sich nicht gerade wie der sprichwörtliche „amerikanische Traum“.
Durch sehr unbeholfene sexuelle Avancen bei seiner Schwägerin Lijy, wird sein Leben schwierig. Er verbringt viel Zeit damit, Lijy vom Auto aus durch ein Fernglas zu beobachten, während seine Frau Diane schwanger ist. Dabei ist er kein schlechter Kerl, sondern sehr empfindsam:
Als er eines Morgens in der Dusche stand und versuchte, jeden Gedanken an Lijy zu verbannen, wurde er so von Schuldgefühlen überwältigt, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Dann bekam er Gewissensbisse, weil er weinte. Väter weinten nicht.
Lomax, Chics und Dianes Sohn, ist ein besonderes Kind, ein frühreifer Sonderling (vielleicht hochbegabt?). Seine Klassenkameraden (Freunde hatte er nicht) sollten ihn nach einem gewonnenen Buchstabierwettbewerb „Dr. Lomax“ nennen. An Selbstvertrauen mangelte es ihm nicht.
Anfang der 60iger Jahre ereignet sich in Chics Familienidyll eine Katastrophe, von der er und Diane sich nie mehr erholen sollten. Leider schaffen sie es nicht, sich dabei aneinander anzulehnen, sondern entfernen sich immer weiter voneinander.
Und während der ganzen Zeit, als ich Schokolade aß, hast du im Bett gelegen und geschnarcht. Irgendwie ist das wie eine Metapher für unser ganzes Leben.
Diane liegt selbst im Bett und isst. Sie wird fett.
Chic ist hilflos seiner Frau gegenüber, versucht ein zweites Kind zu zeugen, scheitert. Bis er durch einen Zufall die Dichtung für sich entdeckt:
Mein Leben ist nichts
als ein Loch in der Erde
und ich komm nicht raus
So lautet sein erstes Gedicht.
Ein anderes Gedicht ist namensgebend für dieses Buch:
Chic Waldbeeser,
voran, voran,
immer weiter voran.
Dabei ist der Spruch gar nicht von ihm selbst, sondern entlehnt aus dem Familienerbe: ein dicker Packen Briefe des ersten in Amerika lebenden Waldbeesers, der fleißig an die Familie in Deutschland schrieb, diese Briefe aber nie abschickte.
So ist die gesamte Familie Waldbeeser eine Familie, die immer weiter vorankommen möchte, es aber nicht schafft und auch nicht wirklich genügend Energie aufwendet, um weiter zu kommen. Immer wenn einer etwas Großes beginnt, wird das schnell zerstört, Ruinen bleiben zurück als ewige Mahnmale für das Versagen.
Die Sprachlosigkeit ist ein weiteres Thema, das sich durch das Buch zieht. Chic versucht sie durch die Gedichte zu durchbrechen, doch bekommt er z.B. von seiner Frau erst wirklich Reaktionen darauf, als sie schon tot ist.
Später, nachdem er Mary kennenlernt, versucht er einen anderen Ansatz. Er redet und redet. Nur hört Mary überhaupt nicht zu. So ist auch diese Beziehung direkt im Ansatz tot. Andere, wie z.B. zu seinem Bruder Buddy, sind von Lügen bestimmt, Sinnlose Lügen, die alle Beteiligten unglücklich machen.
Die Beschreibungen der Orte, der Menschen, der Stimmungen werden sehr lebendig erzählt. Mein Kopfkino passt sehr gut zu der Stadt, die der Autor im Buchtrailer vorstellt:
https://youtube.com/watch?v=lQ8iHAoNS30%3Frel%3D0
Alles ist eigentlich todtraurig, durch die lakonische Sprache aber nicht rührselig. Ganz menschliche Probleme werden erzählt. Uns geht es vielleicht besser als den Protagonisten, aber im kleinen machen wir sicher oft die gleichen Fehler. Es gibt viele peinliche Momente, viele Situationen, in denen man die Darsteller mal schütteln möchte. Aber lassen wir nicht auch viele Gelegenheiten vergehen? Gelegenheiten, unsere Beziehungen zu klären und zu verbessern? Schieben wir nicht auch oft die Realität zugunsten kleiner Träume beiseite?
Vielleicht sollten wir auch Gedichte über unsere Gefühle, unser Leben schreiben:
Ich trage Gedichte in mir… Das tun wir alle… Die Kunst ist, sie rauszulassen.
Lasst es raus! Und das Leben geht:
„Voran, voran, immer weiter voran“.
Ryan Bartelmay: Voran, Voran, immer weiter voran, Blessing Verlag, ISBN: 978-3-89667-526-2, 432 Seiten, € 21,99 [D]
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