Colson Whitehead: Die Nickel Boys
Mittwoch, 19. Juni 2019
Roman über Rassismus und Gewalt an Jugendlichen
Die Nickel Academy ist eine Besserungsanstalt für Jungen. Schon für abstrakte Vergehen wie „Drückebergerei, Herumstreunen, Unverbesserlichkeit“ konnten Jugendliche im letzten Jahrhundert in Florida dort landen. Nach außen eine Vorzeigeschule, werden intern schreckliche Grausamkeiten begangen. Korruption, Gier und Brutalität regieren den Alltag der hilflosen Kinder. Der Roman Nickel Boys beschreibt den Alltag im Nickel anhand des Schicksals von Elwood, der durch einen sehr unglücklichen Zufall dort landete. Es ist aber auch eine Geschichte über Rassismus in den USA in den 1960igern Jahren.
Elwood
Whitehead erzählt die Geschichte des 16jährigen Elwoods. Er fährt als Anhalter mit, der Wagen ist gestohlen: Elwood wird weggesperrt. Dabei ist er ein guter, intelligenter, zielstrebiger Junge. Streng erzogen von der Großmutter, sehr gut in der Schule, fähig in seinem Nebenjob, wollte er jetzt eigentlich aufs College. Stattdessen sitzt er mit Analphabeten im sporadischen Unterricht, arbeitet auf dem Feld und versucht nicht wieder in das „weiße Haus“ gehen zu müssen. Dort wird er direkt in der ersten Woche bestraft. Eine Strafe, weil er einem kleineren Jungen helfen wollte, der von mehreren Älteren malträtiert wurde. Danach liegt er längere Zeit in der Krankenstation. Dieses Buch ist auch eine Geschichte darüber, wie ein junger Mensch unter schrecklichen Bedingungen seine Integrität und Ideale aufrechtzuerhalten versucht. Die Mitarbeiter der Schule versuchen jeden Jungen zu brechen.
Rahmenhandlung
Im Prolog wird beschrieben, wie Archäologiestudenten den offiziellen Friedhof der inzwischen geschlossenen Anstalt untersuchen. Dabei entdecken sie auch nicht gekennzeichnete Gräber mit Skelettteilen, die von viel Gewalt erzählen. So lautet der erste Satz des Buches:
Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.
Des Weiteren wird in der Rahmenhandlung Elwoods Leben in der Gegenwart beschrieben. Er lebt in New York und arbeitet in Umzugsunternehmen. Irgendwann nimmt er sein Herz in die Hand und fliegt zurück nach Florida, um mit dem Kapitel „Nickel“ abzuschließen. Dabei erfährt der Roman auf den letzten Seiten noch eine interessante Wendung. Der letzte Absatz lässt die Hoffnung aufgehen, dass es irgendwann nicht mehr von Belang ist, welchen Farbton die eigene Haut hat.
Wege aus dem Nickel
Es gab vier Möglichkeiten, dem Nickel zu entkommen.
Erstens: Seine Zeit abbüßen.
…
Zweitens konnte das Gericht eingreifen. Das glich stets einem Wunder.
…
Drittens: man konnte sterben
…
Die letzte Möglichkeit bestand in der Flucht.
Man ergriff die Flucht und wartete ab was geschah.
Zu erstens: niemand wusste, wie lange die Strafe war. Wer 18, also volljährig war, wurde vor die Tür gesetzt. Die zweite Möglichkeit war auch so selten wie ein Wunder. Die Flucht führte meistens zum Tod, also zur dritten Alternative.
Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gab, denn die Kinder waren danach traumatisiert, kaum einer schaffte es in ein normales Leben zurück.
Rassismus
Colson Whitehead macht in seinen Büchern auf die rassistischen Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit der USA aufmerksam. Nach Underground Railroad ist er bei den Nickel Boys auf die Mitte des letzten Jahrhunderts eingegangen. Die rassistische Ungleichbehandlung gilt im verstärkten Maße in einer Besserungsanstalt für Jungs in Florida, dem Nickel. Die Misshandlungen dort erinnern stark an Geschichten, wie man sie von Plantagen zur Zeit der Sklaverei kennt. Auspeitschen bis zur Bewusstlosigkeit gehört zum Alltag. Den weißen Jungs in dieser Anstalt ging es etwas besser, deren Leben im Nickel wird allerdings im Buch kaum thematisiert.
Die Gewalt im Nickel konnte ich beim Lesen kaum aushalten. Doch fast noch schlimmer wirkten auf mich die Beschreibungen des „freien“ Alltags der Afroamerikaner. Der unerfüllbare Wunsch in ein Kino zu gehen, im Bus zu sitzen oder ein Restaurant zu besuchen. Oder auch nur die unerfüllte Hoffnung eines Jungen, als der Besuch in einem Restaurant inzwischen erlaubt war, dort auch einmal einen Schwarzen zu sehen, der dieses Recht wahrnehmen kann.
Zur Orientierung: das Buch spielt hauptsächlich in den 1960iger Jahren und enthält einige Zitate von Martin Luther King.
Vorbild
Das Nickel und die handelnden Personen in Whiteheads Roman sind fiktiv. Doch es gibt ein reales Vorbild. Die Arthur G. Dozier School for Boys war von 1900 bis 2011 in Betrieb. Auch dort gab es, wie im Roman, ein „weißes Haus“. Dort fanden die Züchtigungen statt.
Ehemalige Zöglinge berichteten von sexuellem Missbrauch und anderen gewalttätigen Handlungen, die an ihnen begangen wurden. Die Geschichten der sogenannten White House Boys kann man auf ihrer Webseite nachlesen.
Fazit
Packender Roman über Gewalt und Willkür von Erwachsenen, die ihre Gier und Sadismus an Hilflosen auslassen. Nur durch den distanzierten Stil konnte ich die Gewalt ertragen. Einblick in das Leben von Afroamerikanern in den 1960iger Jahren in den USA.
Nachtrag
Die Nickel Boys von Colson Whitehead ist das erste Buch bei Hanser, das dem neuen Konzept eines Schutzumschlags folgt. Dadurch entfällt die umweltschädliche Folie aus Plastik. Gute Idee, ich bin gespannt, ob sie sich durchsetzt. Der Umschlag schützt die offene Buchseite und kann als Lesezeichen verwendet werden.
Ich lese allerdings ohne Schutzumschlag mit einer Lesehülle aus Stoff. Doch der Verzicht auf die Plastikfolie ist eine tolle Sache. Immer mehr Verlage suchen da nach Lösungen.
Hallo Silvia!
Ich hatte gar nicht auf dem Schirm, dass von Colson Whitehead ein neues Buch erschienen ist. Dabei fand ich Underground Railroad damals wirklich toll von ihm. Auch dieses Buch muss ich mir definitiv zulegen, deine Besprechung hat mich zugleich bestürzt und neugierig gemacht!
Liebe Grüße!
Gabriela
Hallo Gabriela,
Nickel Boys ist ein Buch, dass ich lange in Erinnerung behalten werde!
Viele liebe Grüße
Silvia
Ich habe schon eine Rezension über dieses Buch, von der Zitronenfalterin gelesen. Du hast es nicht besser gemacht. Ich möchte dieses Buch nun auch lesen.
Lieben Gruß
Andrea
Hallo Andrea,
du wirst es nicht bereuen!
Viele Grüße
Silvia
Das Buch war gerade Thema bei unserem Bücherstammtisch. Ich finde, es klingt interessant, weiß aber nicht, ob ich es lesen will.
LG
Mona
Hallo Mona,
Das kannst nur du entscheiden. Es hat mir gut gefallen, aber das muss ja nicht allen so gehen.
Liebe Grüße
Silvia
Ich werde das Buch als nächstes lesen. Deine Rezension hat mich noch neugieriger gemacht und mir bereits einen guten Überblick verschafft. Danke dafür.