[Rezension und Lesung]Die Sache mit Norma von Sofi Oksanen
Mittwoch, 22. März 2017
Haariges Buch von Sofi Oksanen
Norma hat ein Problem. Ihre Haare wachsen rasend schnell. Um nicht als Kuriosität in einer Art Zoo und als Sensation in einem Genlabor zu landen, versuchen sie und ihre Mutter Anita dies erfolgreich zu verbergen. Jetzt ist Norma schon dreißig und niemand ist ihr bisher auf die Schliche gekommen.
Da stirbt Anita plötzlich. Selbstmord? Mord? Norma wird plötzlich von allen möglichen Menschen bedrängt. Anita scheint noch weitere Geheimnisse gehütet zu haben.
Norma versucht ihnen auf die Spur zu kommen und trotzdem frei und am Leben zu bleiben. Dazu taucht sie in das Leben ihrer Mutter und auch in das von Eva an, eine Ahnin, die die gleichen Haare hatte.
Anita hat ihr Videoaufzeichnungen überlassen, in denen sie Norma erklärt, was damals mit Eva und auch später mit Anita passierte. Wie in einem Kriminalroman wird so die Spur der Ereignisse für den Leser nach und nach offengelegt.
Rapunzel
Rapunzel ist das Lieblingsmärchen von Sofi Oksanen. Dadurch wurde sie zu diesem Roman inspiriert. Eigentlich hatte sie eine Kurzgeschichte im Sinn, doch die Geschichte wurde immer größer.
Den märchenhaften Charakter hat sie dem Roman erhalten. So wachsen Normas Haare nicht nur in wenigen Stunden meterlang, sondern sie warnen sie auch vor Gefahr, erkennen Lüge und Verrat, können auch mal Leben retten oder nehmen. Die Haare geben ihr die Fähigkeit Menschen „zu riechen“. Sie riecht was sie am Tag zuvor gegessen haben, welches Haustier sie haben, ob sie lügen und ob sie bald sterben werden. Doch irgendwann trifft Norma auf einen Mann, bei dem dieser Radar nicht funktioniert…
Hauptthemen des Buches sind zwei Bereiche, die in unserer Gesellschaft immer mehr Raum einnehmen, über die aber nicht offen gesprochen wird. Das Geschäft mit Echthaar und Leihmutterindustrie.
Haarmafia
Viele prominente Frauen, so zum Beispiel Victoria Beckham, gehen morgens mit kurzen, abends mit langen Haaren in die Öffentlichkeit und die Medien. Wie funktioniert das? Durch Extensions. Natürlich mit Echthaar. Und woher kommt dieses Haar? Darüber macht sich kaum einer Gedanken. Normales Haar wächst ca. 1 cm im Monat. Da kann man sich ausrechnen, wie lange es dauert um eine veritablen Zopf zu züchten. Viele arme Frauen verkaufen ihre Haare. Freiwillig um ihre Not zu lindern, oder gezwungenermaßen, weil ihre Männer das Geld haben wollen.
In Mittelamerika werden Frauen auf offener Straße von Haardieben die Zöpfe abgeschnitten. Einige Gefängnisse in Ländern, in denen Menschenrechte wenig gelten, machen ein Geschäft damit, ihren Insassinnen die Köpfe zu rasieren und die Haare zu verscherbeln. Bitte denkt daran, wenn ihr mal auf die Idee kommt, euch Extensions aus Echthaar zu „gönnen“. Als bestes Haar gilt „ukrainisches“. Es ist blond und hat eine gute Struktur. Wieviel Ukrainerinnen lassen sich wohl freiwillig für ein paar Euro ihre Haare abschneiden? Aber ist das wirklich aus freien Stücken? Im Buch wird beschrieben wie sich Kundinnen eines Friseursalons Sorge über Sauberkeit der fremden Haare und Läuse machen, aber niemand fragt wo die Haare herkommen, wie sie „geerntet“ werden.
Normas Haar hat genau diese gewünschte Struktur. Mehr noch: es passt sich dem der neuen Trägerin perfekt an.
Haare haben in der Kultur auch eine starke symbolische Bedeutung. So haben wir zum Beispiel viele Redewendungen mit Haaren: graue Haare wachsen lassen, an den Haaren herbeigezogen, kein Haar krümmen…
Haare sind etwas sehr Persönliches, jeder hat eine intime Beziehung zu seinen Haaren. Sie spielen in vielen Religionen eine Rolle. In der Bibel verliert Samson mit den Haaren seine Kraft. In der Lesung bei der LitCologne erzählte Oksanen, dass Navajo Indianer im Vietnamkrieg als Spurenleser sehr geschätzt wurden. Doch oft verloren sie ihre Fähigkeiten, als ihnen bei Eintritt in die Army ein militärischer Haarschnitt verpasst wurde.
Leihmütter
Das andere Hauptthema ist Leihmutterindustrie. Ja, man kann dieses Wort verwenden. Überall auf der Welt gibt es Leihmutterkliniken. Dort leben Frauen, denen eine befruchtete Eizelle eingesetzt wird. Sie tragen das Kind aus und dann geht es weiter mit der nächsten Schwangerschaft. Wie in einem Zuchtbetrieb. Im Buch ist die Rede von „Gebärmuttervermietungen in Hanoi“. Nigeria hat diesen Wirtschaftszweig wohl auch für sich entdeckt.
Es gibt einen Fall einer Frau aus Thailand, das Kind litt am Down-Syndrom und wurde vom „Kunden“ nicht abgenommen. Sie wurde mit dem behinderten, weißen Kind allein gelassen und war damit vielen Anfeindungen ausgesetzt, von den finanziellen Problemen ganz zu schweigen. Da kann man sich nur fragen wie das passieren konnte. Denn die Kunden können bereits jetzt einige Eigenschaften des Kindes wählen und solche „Anomalien“ können direkt ausgemerzt werden. Ebenso wie vorherige Geschlechterbestimmung, oder Auswahl von Fremdsamen, so dass alle Kinder groß, blond, blauäugig und athletisch werden. So was hat jemand schon Mitte des letzten Jahrhunderts versucht.
Zusammenhang
Beide Themen werden geschickt miteinander verknüpft. Es sind die gleichen Länder, in denen diese Geschäfte florieren. So gibt es einige dieser Gebärfabriken in Nigeria, dort ist der Markt mit Echthaar sehr groß, viele Nigerianerinnen sind Kunden.
Stellt euch vor wie lange es dauert, sich einen anständigen Zopf wachsen zu lassen. Eine Schwangerschaft dauert dagegen nur neun Monate.
Beide Themen werden durch den herrschenden Schönheitswahn und Perfektionismus aufgestachelt. Jeder will schön sein, gerade von Frauen wird das zunehmend gesellschaftlich erwartet, und auch der Nachwuchs soll perfekt sein, um den Kindern das bestmögliche Leben zu bescheren. Diese Verbindung wird auch im folgenden Zitat deutlich:
Lieblingsstelle
Wer die Träume beherrscht, der beherrscht die Welt. Wer die Haare beherrscht, der beherrscht die Frauen. Wer die Fortpflanzungsfähigkeit beherrscht, der beherrscht auch die Männer. Wer die Frauen zufriedenstellt befriedigt auch die Männer, und wer Menschen mit der Sehnsucht nach schönem Haar und niedlichen Babys infiziert, der ist der König.
Fazit
Sofi Oksanen hat es geschafft zwei kritische Themen mit einem Schuss Fantasy zu verbinden und hat eine spannende Geschichte über starke und schwache Frauen verfasst die mich ziemlich mitgerissen hat. So entstand ein brisanter, feministischer Roman der vielleicht mit „magischem Realismus“ klassifiziert werden könnte.
Die Lesung
Der Abend mit Sofi Oksanen fand in der Kölner Kulturkirche im Rahmen der LitCologne statt. Dies ist ein sehr schöner Ort für solche Veranstaltungen, mit einem unvergleichlichen Ambiente. Das Gespräch mit dem wunderbaren Bernhard Robben (der echt Humor hat und sogar vor Publikum über sich selbst lachen kann) wurde auf eine Leinwand übertragen, mit weiteren Beamern gab es an anderen Kirchenwänden Schriftzüge und Ornamente zum Buch aus Licht, was einen interessanten Kontrast zum Kircheninterieur brachte.
Die beiden plauderten angeregt über das Buch, Haarmafia, Leihmütterkliniken und die Symbolik der Namen im Buch. Denn Oksanen überlässt nichts dem Zufall. Sie assoziert den Vornamen Norma nicht nur mit der gleichnamigen Oper, sondern auch mit Norden und dem Wort normal. Wobei Norma einfach etwas fehlt um als normal gelten zu können.
Auch tatsächliche Fälle von übermäßigem Haarwuchs kamen zur Sprache. Die sieben Sullivan-Schwestern und Elisabeth Siddal. Alle Geschichten enden für die Frauen nicht gut, was vor allem an der Ausbeutung durch die Männer in ihrem Leben lag.
Sofi Oksanen sieht zwar aus wie ein Paradiesvogel, ist aber eine ernsthafte Frau, die etwas verändern will und sich stark engagiert. Klasse fand ich ihre Reaktion auf die Frage der Frau, die vor mir in der Signierschlange stand. Wie denn ihre Beziehung zu ihrem (doch recht auffälligem) Kopfputz sei. „It‘s hair. Just hair.“ sagte sie.
Infos zum Buch
Sofi Oksanen
Die Sache mit Norma Übersetzung: Stefan Moster Kiepenheuer & Witsch 352 Seiten ISBN: 978-3-462-31698-8 [D] 18,99 €, gebundene Ausgabe |
Huhu!
Das klingt nach einem unheimlich faszinierenden, ungewöhnlichen Buch! Jetzt bin ich sehr neugierig und habe es mir auf meine Wunschliste gesetzt.
Im Buch „Das Gleichgewicht der Welt“, einem epischen Indien-Drama, kommt auch ein Haar-Händler vor, der aus Verzweiflung, weil er das Geld zum Leben braucht, Frauen ohne ihre Einwilligung das Haar abschneidet und zum Schluss sogar zum Mörder wird… Da fand ich das Thema auch schon sehr interessant, weil ich mir vorher nie Gedanken darüber gemacht hatte, dass Echthaar vielleicht etwas Problematisches sein könnte.
Von dem Fall aus Thailand hatte ich gehört – war das nicht sogar so, dass es Zwillinge waren, und der Auftraggeber hat nur den gesunden Zwilling mitgenommen? Oder war das noch ein anderer Fall?
Ich habe diesen Beitrag HIER für meine Kreuzfaht durchs Meer der Buchblogs verlinkt!
LG,
Mikka
Liebe Mikka,
„Das Gelichgewicht der Welt“ habe ich auch gelesen, es ist aber schon leider Jahre her, so dass ich mich daran nicht mehr erinnert habe. Danke für die Auffrischung und die Verlinkung!
Das mit den Zwillingen in Thailand werde ich nochmal recherchieren.
Viele Grüße
Silvia