Gehe hin, stelle einen Wächter
Dienstag, 8. September 2015
Harper Lee
Gehe hin, stelle einen Wächter
Dieses Buch kann ich nicht unvoreingenommen lesen. „Wer die Nachtigall stört“ ist zu Recht ein Weltbestseller, und das über viele Jahrzehnte hinweg. Dieses Buch hat mich berührt, begeistert und zu Diskussionen angeregt.
Als ich las, das ein verschollenes Buch von Harper Lee im August veröffentlicht wurde, war mir direkt klar: das muss ich lesen.
Dann kam das Buch, auch in mein Regal. Und direkt viele Artikel und Rezensionen dazu. Und diese waren nicht unbedingt positiv. Wenn man schon die Geschichte dieses Buches (Astrid hat es schon kurz beschrieben) liest, kommen direkt Zweifel, ob diese Veröffentlichung überhaupt rechtens ist. Warum geht man das Risiko ein diesen Nimbus um die Schriftstellerin zu gefährden? (schon klar, es geht natürlich um viel Geld…).
Doch ich wollte mir selbst ein Bild machen.
Über das Buch
Jean Louise Finch, aus „der Nachtigall“ als Scout bekannt, ist erwachsen. Sie ist Mitte 20, lebt in New York und kehrt nur wenige Wochen im Jahr nach Hause zurück. Ihr geliebter und sehr verehrter Vater Atticus lebt (in einem anderen Haus) mit seiner Schwester Alexandra weiterhin in Maycomb County. Auch seine Kanzlei betreibt er noch. Dort wird er von Henry Clinton, genannt Hank, unterstützt. Henry und Jean Louise verbindet mehr als nur eine alte Freundschaft. Hank liebt Jean Louise und möchte sie zu gerne heiraten.
Jem, Scouts Bruder, ist bereits gestorben. Atticus ist geistig sehr fit, leidet aber stark unter körperlichen Gebrechen.
Jean Louise ist in ihrer alten Heimat hin- und hergerissen. Sie liebt die kleine Stadt, fühlt sich aber von den Gepflogenheiten und der Hohlheit ihrer ehemaligen Freundinnen abgestoßen. Auch in ihren Gefühlen Hank gegenüber ist sie sich nicht sicher. Mal küsst sie ihn, mal stößt sie ihn wieder weg.
Sie möchte einfach noch weiterhin ihre Freiheit genießen, so wie sie es die letzten Jahre in New York gemacht hat. Dafür ist Maycomb aber zu eng.
Soweit die Rahmenbedingungen des Buches.
Zum Titel
Bibelfestere Menschen als ich, haben es sicher direkt erkannt. Das Zitat steht bei Jesaja in Kapitel 21:
Denn der Herr sagte zu mir: Gehe hin, stelle einen Wächter, der da schaue und ansage.
Ich hatte mich anfangs schon sehr über den Titel gewundert, ist er doch recht sperrig für den deutschen Buchmarkt. Aber gegen die Bibel kommt man da wohl nicht an.
Ob man „Die Nachtigall“ heute auch mit „Wer tötet einen Spotttölpel?“ vermarkten würde? Immerhin ist dieser Vogel seit der Panem-Trilogie doch etwas bekannter.
Bisher war dieser Wächter für Jean Louise immer ihr Vater. Dieser gerechte, über alles erhabene Mann, der sie zu einer denkenden Person erzogen hat. Doch das sollte sich im Laufe dieses Buches ändern.
Der „neue“ Atticus
In Rückschauen werden einige Erziehungsfehler von Atticus deutlich. Scout fängt langsam an ihren Vater, zumindest innerlich, zu kritisieren. Ein bedeutender Schritt. Schließlich ist Atticus Finch für seine Tochter genauso unfehlbar, wie für uns Millionen von Menschen, die „die Nachtigall“ gelesen oder als Film gesehen haben. Dort wurde so ein aufrechter Mensch beschrieben, dass er allen nur als Vorbild dienen kann.
Und dieser sympathische Übermensch bekommt in diesem Buch plötzlich Risse. Denn er scheint sich zum Rassisten gewandelt zu haben. Was ist passiert?
Aus heutiger Sicht ist das, was Atticus zur Rechtfertigung seiner Tochter sagt, sicher rassistisch. Wir sollten es aber auch mal aus der Sicht von damals sehen. Für damalige Zeiten, und dann noch in den Südstaaten, waren Atticus Äußerungen und Argumentationen noch recht fortschrittlich. Doch Jean Louise ist jetzt den New Yorker Ton gewöhnt. Eine Stadt, in der „Neger“ (damaliger Sprachgebrauch, wird auch in der Übersetzung verwendet) als normale Mitbürger angesehen werden.
Und nicht nur Atticus hat sich verändert. Sehr anrührend fand ich die Szene, in der Scout ihre Ziehmutter Calpurnia besucht. Der Mensch, der ihr nach ihrem Vater und ihrem Bruder als Kind am meisten bedeutet hat. Auch dort ist das Verhältnis deutlich abgekühlt, eher zu Scouts Erstaunen.
Sie hat da vor mir gesessen, sie hat eine Weiße gesehen. Sie hat mich großgezogen, und ich bin ihr egal.
Durch die politischen Hintergründe hat sich das Stadtklima zwischen Weiß und Schwarz verhärtet:
Jean Louise, in Maycomb geht niemand mehr irgendwelche Neger besuchen, seit sie sich uns gegenüber so aufführen.
Schließlich hat der NAACP durch eine Klage beim Supreme Court das Wahlrecht für alle erreicht. Und im Süden bekommt man es plötzlich mit der Angst zu tun. Was passiert, wenn Neger Neger wählen? Wie werden sie dann mit den Weißen umgehen? Sehr verständliche Angst, wie ich meine. Wenn man eine Volksgruppe über Jahrhunderte als unmündig betrachtet hat und sie plötzlich die Macht übernehmen können. (Ich will hier nicht Partei ergreifen).
Auch Jean Louise hat mit den Vorgängen vor dem obersten Bundesgericht ihre Probleme. Allerdings anders als Atticus. Zur Lektüre des Buches lohnt es, sich mit diesem Teil der amerikanischen Geschichte zu beschäftigen (passende Entscheidungen des Gerichts und die im Buch erwähnten Verfassungszusätze).
In diesem Buch geht es meiner Meinung nach nicht um den neuen Atticus. Dieser ist so geblieben, wie er immer war. Neu ist Scout. Jean Louise ist kein Kind mehr, sondern eine unabhängige, denkende Frau. Sie ist diejenige, die sich so verändert hat.
Warum man das Buch lesen sollte
Zu alter Hochform läuft Lee Harper meiner Ansicht nach bei den Erinnerungen an die Kindheit auf. Immer wenn sie in Scouts Kindheit weilt, empfinde ich den Stil flüssiger und wieder so schön wie im anderen Buch
Es hatte eine Zeit gegeben, längst vergangen, da hatten die einzigen friedlichen Momente ihres Daseins in den wenigen Sekunden am Morgen zwischen dem Aufschlagen der Augen und dem vollen Erwachen ihres Bewusstseins gelegen, nur eine kurze Spanne, bis der Albtraum des Tages begann.
Ganz großartig ist auch die Beschreibung der „Kaffeevisite“ in der aus Satzfragmenten, durch Leerstellen verbunden, neue, wunderbare Sätze und Bedeutungen entstehen.
Dieses Buch hat auch viele aktuelle Aspekte. Gerade die neuen Unruhen in den USA und die andauernde Präsenz des NAACP zeigen, dass diese Probleme auch heute noch nicht gelöst sind.
Mein Fazit
Jean Louise hat durch ihre Erziehung und ihr jetziges Leben in den Nordstaaten ein eigenes Weltbild:
Mir wurde beigebracht niemals einen Menschen auszunutzen, der weniger vom Glück begünstigt war als ich, ob er nun weniger Verstand hatte, weniger Reichtum oder eine geringere gesellschaftliche Stellung. Und das galt für jeden Menschen, nicht bloß für Neger. Mir wurde erklärt, dass das Gegenteil verachtenswert war. So wurde ich großgezogen, von einer schwarzen Frau und einem weißen Mann.
Diese junge Frau hat die Kraft ihr eigenes Bild der Welt zu verteidigen. Und das auch gegen diesen weißen Mann. Das Buch ist eine Coming-Of-Age-Geschichte. Nur ist die Protagonistin schon 26 Jahre alt. So alt musste sie werden, um sich durchzusetzen, ihre eigene Meinung zu vertreten und ihren Vater vom Sockel zu stoßen. Ein Sockel, den sie selbst für ihn gebaut hat. Und ich finde, dass dieses Anliegen der Autorin gut gelungen ist.
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Lee Harper: Gehe hin, stelle einen Wächter,
in einer Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Verlag: DVA Belletristik, ISBN: 978-3-421-04719-9, € 19,99 [D]