Der Susan-Effekt
Donnerstag, 10. September 2015
Zum Inhalt
Susan Svendsen und ihre Familie sind die zentralen Protagonisten dieses Romans.
Susan selbst ist Experimentalphysikern, ihr Mann Laban ein gefeierter Komponist. Die sechzehnjährigen Zwillinge Thit und Harald sind schön und sehr begabt. Diese vier Menschen sind sehr unterschiedlich, haben aber eine gemeinsame Eigenschaft. Den sogenannten Susan-Effekt. Dieser ruft Aufrichtigkeit bei anderen hervor. Sind mehrere Personen der Familie zusammen, können sie diesen Effekt noch verstärken.
Susan beschreibt diesen Effekt am Anfang des Buches so:
An der Bushaltestelle vergehen zwei Minuten, dann hat der Mann vor mir in der Schlange von seiner kranken Frau erzählt. Im Bus erzählt mir dann die Frau auf dem Nebensitz von ihrer Liebe zu ihrem Hund. Die Jungs, die mit mir aussteigen, erzählen mir erst von ihrem Kummer, nicht für die erste Mannschaft nominiert worden zu sein. Und dann von den Mädels, in die sie verknallt sind.
Diese Eigenschaft kann zu unangenehmen Erlebnissen führen, aber auch schon mal gezielt eingesetzt werden.
Doch jetzt war die Familie für ein Jahr in Indien, wo sich alle vier unabhängig voneinander in große, lebensgefährliche Schwierigkeiten gebracht haben. Da erscheint plötzlich der geheimnisvolle Thorkild Hegn, bringt alle vier zurück nach Dänemark und verlangt dafür nur die Beschaffung eines Protokolls der sogenannten „Zukunftskommission des Folketings“. Diese Kommission wurde Anfang der siebziger Jahre als Denkfabrik gegründet und 2015 aufgelöst. Eine Handvoll junger, vielversprechender Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen wurden zusammengebracht, damit sie über die Zukunft nachdenken.
Sie leisteten Erstaunliches. Viele ihrer Visionen wurden Wirklichkeit, sie sahen erstaunlich korrekt Ereignisse, Katastrophen, Kriege, Wirtschaftsentwicklungen voraus. Von einer der letzten abgehaltenen Sitzungen fehlt das Protokoll. Dieses soll Susan als Lohn für die Rettung des Familie Svendsen mithilfe ihrer besonderen Fähigkeiten besorgen.
Ein sehr gefährliches Unterfangen, denn jemand versucht die Kommissionsmitglieder und auch Susan und ihre Familie zu töten. Eine verwirrende Jagd quer durch Kopenhagen beginnt.
Meine Meinung
Das Buch spielt in der nahen Zukunft. Die letzte Vorhersage der Kommission ist schrecklich, aber auch realistisch. Und wer weiß, vielleicht ist die Reaktion der dänischen Regierung gar nicht so unwahrscheinlich? Das will ich aber mal offen lassen. Zumindest hat dieses Buch mich sehr zum Nachdenken gebracht. Nicht nur wegen dieser Zukunftsvisionen, sondern auch wegen der vielen wissenschaftlichen Andeutungen.
Susan ist ein sehr geerdeter Mensch. Sie erklärt sich alles, aber auch alles physikalisch. Das fand ich sehr interessant. Außerdem ist sie so eine Art Superfrau mit vielen Kenntnissen über verschiedene handwerkliche Gewerke, Medizin, Biologie, mit einem grünen Daumen ausgestattet, ist eine begnadete Köchin, natürlich unwiderstehlich schön, schlau und trägt immer die passenden Werkzeuge mit sich herum. Sie ist genauso, wie es heute von Frauen erwartet wird.
Aber sie ist keine liebenswerte Frau, keine, die ich gerne zur Freundin hätte, weil einfach unfehlbar, hammerhart und konsequent in ihrem Leben, Entscheidungen und Handlungen.
Trotzdem fand ich einige ihrer Ansichten wunderbar. So zum Beispiel ihre Aussage zu heutigen Kindern:
Sie glauben, das Dasein ist eine Art Geschenkartikelshop mit freier Auswahl auf allen Regalen.
Manchmal hat sie auch ganz überraschende Erkenntnisse. So versucht sie zum Beispiel die Wirkung von Mondlicht physikalisch zu erklären, kommt dann aber plötzlich auf eine ganz andere Antwort:
Fünfhundert Jahre Forschung, aus der man folgern kann, dass immer noch keiner weiß, was Licht eigentlich ist. Und dann weiß ich es plötzlich. Ich hole mir die Antwort direkt vom Mondlicht auf den Gesichtern der Zwillinge. Licht ist in Wirklichkeit eine Liebkosung.
So sind immer wieder fast poetische Sätze über das Buch verteilt. Ja, die Bücher dieses Autors sind nicht gerade leicht zu verstehen. Aber sehr gut geschrieben. Die Sprache kann man sich auf der Zunge zergehen lassen, sie ist schwerelos. Auch weist das Buch durchaus eine gute Prise Humor auf und geht sehr kritisch mit unserer Gesellschaft um. Das Ganze ist vielleicht auch manchmal ein wenig wirr, aber sehr spannend und temporeich. Und lehrreich.
Eine Kostprobe des Humors ist folgende Beschreibung einiger Bodygards:
Es sind keine gewöhnlichen Männer. Es sind Haie, die an Land gegangen sind, Maßanzüge tragen und aufrecht gehen und gelernt haben, höfliche Sätze zu sagen.
Ich muss nicht mit allen Ansichten des Buches übereinstimmen, aber über viele Passagen denke ich nach. So zum Beispiel diese Sätze zur Entstehung von Krieg:
„…sämtliche Forschung deute darauf hin, dass Wut sich kollektiv aufbaue, und zwar recht langsam. Als gäbe es ein Reservoir der Wut, ein Giftdepot, und wenn es voll ist und überläuft, bricht Krieg aus.
Wenn ich da an die Nachrichten unserer Zeit denke, wird mir angst und bange.
Hier noch ein Beispiel, wie simple Phänomene wissenschaftlich erklärt werden. in diesem Fall der Händedruck:
Auf der ganzen Welt passieren drei Dinge, wenn Menschen Kontakt miteinander aufnehmen. Und das wurde noch nie systematisch beschrieben: man etabliert eine physische Verbindung, nämlich die gegenseitige Berührung der Hände. Fast gleichzeitig erweitert sich das elektromagnetische Feld des Herzens, und eine subtil vermehrte Aktivität in der medulla oblongata fängt an; wir können das eine Aktivierung des Herzens nennen. Und dann tritt eine bewusstseinsmäßige Veränderung ein, eine Aktivierung der Herzkranzgefäße, die Wachheit und Aufmerksamkeit regulieren. Das physische Korrelat zum Blickkontakt der Beteiligten…
Denkt mal beim nächsten Händedruck darüber nach…
Ja, ich gebe zu, dass ich die Bücher dieses Autors nicht jedem uneingeschränkt empfehlen möchte, ich habe auch schon weniger gelungene Begegnungen gehabt („Die Frau und der Affe“ habe ich zum Beispiel nicht so wirklich verstanden). Aber für Leser, die denken und trotzdem eine temporeiche Handlung möchten, ist das schon eine Leseempfehlung.
Die Message
Dieses Buch ist eine unverhohlene Warnung:
Keiner kann sich mehr daran erinnern, aber europäische Biologen warnten erstmals Mitte der sechziger Jahre vor der Umweltverschmutzung. Seitdem hat sich alles exponentiell verschlimmert. Jetzt entfalten sich apokalyptische Szenarien, jetzt brechen die biologischen Systeme zusammen. Es gibt keinen denkenden Journalisten mehr, der das nicht weiß, keinen Politiker, keinen Forscher. Aber es darf nicht gesagt werden, es wird nicht erhört… Denn wir sind alle Teil des Problems, … es ist unmöglich, die Verantwortung auf andere zu schieben.
Zusatzinfo
Empfohlen ist an dieser Stelle noch die Website zum Buch, die mit einem Trailer zum Buch, Informationen zum Autor und drei Videos, indem die Wirkungsweise des Susan-Effekt bei Verhören unter beweis gestellt wird.
Und die Moral von der Geschicht…
Die Zukunft besteht nicht darin, dass wir aus unseren Irrtümern lernen. Sie besteht darin, dass wir nicht wahrhaben wollen, dass sie überhaupt stattgefunden haben.
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