Im Schatten des Banyanbaums
Dienstag, 21. April 2015
Die Autorin Vaddy Ratner stammt aus Kambodscha. Sie war mit der Fürstenfamilie verwandt, die Mitte der 1970iger Jahre über das Land herrschte. Bis die roten Khmer die Macht an sich rissen und das Land in das totale Chaos stürzten. Dieses Buch erzählt die Geschichte des Mädchens Raami, Alter Ego der Autorin.
Raami ist ungefähr sieben Jahre alt, intelligent, lebt glücklich mit der Familie in einem palastähnlichen Haus in Pnom Phen. Sie ist umgeben von Liebe und steckt deshalb ihr eigenes Handicap aufgrund von Kinderlähmung gut weg. Ihr Vater entstammt der Fürstenfamilie und ist ein erfolgreicher Dichter. Die Mutter kümmert sich um den großen Haushalt und auch um Raamis kleine Schwester.
Raamis größten Probleme sind die Eifersucht auf ihre kleine, perfekte Schwester, die sie trotzdem innig liebt und ihre eigene körperliche Beeinträchtigung, durch die sie stark hinkt. Ansonsten wächst sie glücklich und geliebt auf.
Rote Khmer
Zum Neujahrsfest 1975 liest sie in der Zeitung: „Khmer Krahom kesseln die Stadt ein“. Das versteht dieses sonst so kluge Kind nicht. Khmer ist einfach das Wort für Kambodschaner, Krahom für rot. Was soll das sein? „Ich fragte mich, welche Farbe ich als Khmer hatte“.
Es herrscht plötzlich Krieg. Die Revolutionäre zwingen alle Bewohner der Hauptstadt diese zu verlassen. Großmutter Königin, die alte Familienpatriarchin, Mutter von Raanas Vater, zitiert dazu eine alte Prophezeiung: „ Es werden nur so viele von uns übrig bleiben, wie im Schatten eines Banyanbaums Platz finden.“. Die Familie muss fliehen und alles zurücklassen: das Haus, die Bediensteten, die versuchen sich zu ihren eigenen Familien durchzuschlagen, den schönen Garten, den gesamten Hausrat und den Banyanbaum, „in dessen Schatten sich heiliger Boden befand“.
Revolution
Die Revolutionäre führen ihre Repressalien nicht nur gegen die Menschen aus, die Verbindungen zur Monarchie oder Republik hatten, sondern gegen alle Intellektuelle, Ausländer, jeden, der ein wenig Bildung erworben hat. Es reicht schon lesen und schreiben zu können, um den Tod zu verdienen.
Sie bringen das Land auf einen Schlag zurück ins Mittelalter. Auf jeden Einwand gibt es eine Kugel oder den Satz „Die Organisation wird sich darum kümmern.“ Egal, ob es sich um fehlendes Essen, schlechtes Wetter oder nicht vorhandene Infrastruktur handelt. Systematisch wird das ganze Land zerstört. Tausende von Menschen werden zwangsweise und willkürlich umgesiedelt. Wer kein Analphabet ist, wird exekutiert.
Historiker schätzen, dass in den folgenden dreieinhalb Jahren ein Viertel der Bevölkerung ermordet wurde (Stichwort „Killing Fields“).
Ironischerweise waren die Intellektuellen, zu denen auch Raanis Vater zu zählen war, diejenigen, die sich intern schon gegen das feudalistische System aufgelehnt haben und es gerne zu einem gerechteren Staat verändern wollten. Jetzt wurden sie alle getötet oder zur Zwangsarbeit aufs Land gebracht. Privateigentum wurde abgeschafft, traditionelle Regeln der Landwirtschaft nicht mehr beachtet, Religion verboten. Dadurch wurde alles lahmgelegt.
Menschliche Beziehungen wurden systematisch zerstört
Raamis Familie wurde zerrissen, die meisten kamen um. Raami machte sich selbst für den Tod des Vaters und der kleinen Schwester verantwortlich.
Die Autorin und ich sind etwa gleich alt. Während ich die letzten Jahre der Grundschule absolvierte und aufs Gymnasium kam, arbeitete sie auf den Reisfeldern oder beim Dammbau bis zur totalen Erschöpfung und ohne auch nur annähernd ausreichende Ernährung. Dieser Gegensatz ist für mich unbegreifbar.
Das Buch ist in einer fast poetischen Sprache geschrieben. Aus der Sicht eines Kindes und mit der Stimme einer Erwachsenen wird beschrieben, wie ein Land und seine Bewohner dem Chaos preisgegeben werden und nur durch ausländisches Eingreifen befreit werden konnten.
Vor allem der letzte Teil, in dem die Autorin beschreibt, wie alle Arbeiter knapp vor dem Hungertod jeden Käfer einfach in den Mund steckten und mechanisch immer weiter arbeiteten, geht schon sehr unter die Haut.
Ein wichtiges Kapitel der asiatischen Geschichte, das aus einer ungewohnten Perspektive dem Leser begreiflich gemacht wird.
Hier noch einige Zitate:
„Was auch immer an Hässlichem und Zerstörerischem um die herum sein mag, ich will, dass du daran glaubst, dass das winzigste Fünkchen Schönheit hier und dort ein Abbild des Wohnsitzes der Götter ist.“
„Mir war jetzt klar, dass Bücher zwar zerrissen und verbrannt werden konnten, ihre Geschichten damit aber nicht unbedingt verloren und vergessen waren.“
„Als Siebenjährige hat man es gar nicht so leicht… Ich fragte mich, wie alt man wohl sein musste, um alles zu verstehen.“
„Hunderte Tevodas stimmten ein, ihr Weinen klang wie ein Schwarm Vögel, die sich in die Luft aufschwangen und flügelschlagend in den dämmrigen Himmel erhoben.“
„Wenn ich meine Entwurzelung und Verpflanzung überleben wollte, musste ich mich recken und strecken wie der junge Reisschössling es tut. Ich musste mich über den Schlamm und den Mist, über die Verwilderung meiner Umgebung hinwegheben und gleichzeitig den Schein erwecken, ich gediehe darin.“
„Alle anderen Gefühle – Trauer, Bedauern, Sehnsucht – waren ohne Belang, ein privater Luxus, den wir, heimlich und jede für sich, hervornahmen und so lange hätschelten, bis er neuen Glanz bekam, bevor wir ihn wieder verstauten und uns dem Alltag zuwandten.“
„… dass Radana nicht mehr aufwachen würde. Nie wieder. Vorübergehend war für immer, und für immer war jetzt. Der Tod war jetzt und in Ewigkeit.“
„Tiere sind nicht wie Menschen. Wenn man sie in Ruhe lässt, tun sie einem nichts. Menschen schon, sogar wenn du nichts Falsches getan hast. Sie fügen dir mit ihren Gewehren, ihren Worten, ihren Lügen und gebrochenen Versprechen und mit ihren Sorgen Schmerz zu.“
„Weinen war gegen die Lehre der Revolution.“
„Ich bin dein heiliger Boden. Du kannst mir ein Loch ins Herz bohren und all deine Traurigkeit darin begraben. Ich werde dein Grab sein.“
„Dich zu behalten ist kein Gewinn, dich zu töten ist kein Verlust.“
„… aber ich erinnerte mich an all die Male, als der Tod mich gestreift hatte und ich die Augen verschlossen oder mich abgewandt hatte. Ich konnte da nicht länger tun. Ich konnte die Menschen, die ich liebte, nicht allein ins Angesicht des Todes blicken lassen. Von jetzt an, sagte ich mir, würde ich bleiben, wo ich war, würde ich für sie da sein.“
„Ich habe dir Geschichten erzählt, damit du Flügel bekommst, Raami, damit du niemals von irgendetwas gefangen gehalten wirst – deinem Namen, deinem Titel, deinen körperliche Einschränkungen, den Leid der hiesigen Welt.“
Dieses Buch hat mir Kambodschas Geschichte und Kultur etwa näher gebracht. Ein Land über das ich vorher fast nichts wusste.
Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-00470-2, 384 Seiten, € 21.95 [D], gebundene Ausgabe
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