Jocelyne Saucier: Niemals ohne sie
Mittwoch, 13. März 2019
Rezension des Familienromans
Dieser Roman der Kanadierin Jocelyne Saucier handelt von der Familie Cardinal. Einer recht ungewöhnlichen Familie, denn das Elternpaar hat 21 Kinder. In Worten einundzwanzig. Leibliche Kinder. Ein Zwillingspärchen war dabei. Sie leben in einem ungewöhnlichen Haus in einer kleinen Bergbaustadt in Kanada. Das Buch beschreibt im Rückblick das Alltagsleben mit seinen Anekdoten und Katastrophen. Doch es geht eigentlich darum, wie die Familienmitglieder alleine und als Gemeinschaft mit dem Verlust eines der Kinder umgehen.
Zwillinge
In der meiner Grundschulklasse saßen drei Zwillingspärchen. Auch ich wollte eine Zwillingsschwester haben. Meine Nachbarinnen waren eines dieser Zwillingspärchen. Was war ich nach einem Spielnachmittag gemeinsam immer neidisch, wenn ich allein nach Hause gehen musste und sie beide doch den ganzen Abend und die Nacht zusammen verbringen durften! Ich stellte mir das wunderbar vor, so immer jemanden zum Spielen, quatschen, streiten in Reichweite zu haben. An die Probleme wie Eifersucht und Selbstfindung dachte ich als Kind natürlich nicht.
Die beiden Zwillinge im Buch, Carmelle und Angèle, sind eineiige Zwillinge. Äußerlich kaum zu unterscheiden, innerliche Seelenverwandte. Besonders Carnelle war sehr empfänglich für Stimmungen und das Leben ihrer Schwester, auch, wenn diese gar nicht da war. Diese besondere Verbindung der Zwillingsschwestern hat eine wichtige Bedeutung für diesen Roman.
Die Protagonisten
Die Eltern sind fast nur Nebenrollen in diesem Roman. Die Namen der Kinder habe ich mal herausgeschrieben, um durch diese Auflistung nochmal deutlich zu machen wieviel es sind. Vorne steht immer der Spitzname, mit dem die Kinder sich gegenseitig immer anredeten, während die Eltern die Geburtsnamen benutzten. Diese habe ich, soweit sie mir auffielen, in Klammern gesetzt. Es gibt übrigens nur fünf Mädchen dabei. Ein paar Infos habe ich bei dem einen oder anderen Kind noch hinzugefügt um mir selbst die Unterscheidung zu erleichtern.
Matz (Denis, jüngster Sohn), Geronimo (Laurent, wurde Arzt), Jeanne d’Arc (Émilienne, älteste Tochter, sie übernahm die Pflege der Babys), Gelber Riese (ich konnte weder den tatsächlichen Namen noch den Grund für diesen Spitznamen herausfinden), Tommy (Carmelle, eines der Zwillingsmädchen), Zwilling (Angèle, der andere Zwilling), El Toro (Lucien), Stan (Emilien auch Stanley oder Siscoe genannt, Ältester), Mustang, Nofretete, Tim (Justin), Jahu (Julien), Magnum, Wapiti, Pharao, Mahatma, Zorro, Tootsie (zweitjüngstes Kind), Fakir, Bibi und Mücke.
Konstruktion
Der Roman spielt bei einem Familientreffen 1995, denn der Vater, ein mittlerweile 81jähriger Erzsucher, soll als solcher im hohen Alter eine Auszeichnung bekommen. Alle sind gekommen. Die Eltern, alle Kinder. Nur Angèle fehlt. Warum wird erst im Laufe des Romans deutlich. Er ist in sieben Teile gegliedert. Immer übernimmt ein Kind darin die Perspektive. So wird die große Familientragödie, die diese auch als Gesamtheit zerstörte, von verschiedenen Seiten betrachtet. Den Anfang macht Matz, also Denis. Er ist der jüngste und scheint etwas naiv, was die tatsächlichen Beziehungen untereinander angeht. Wer gerate den Erzählstrang vorantreibt wird nicht explizit am Anfang benannt, aber spätestens nach ein oder zwei Seiten fiel bei mir der Groschen.
Die Mutter
Wie eine Bienenkönigin inmitten ihrer Kinder, aber doch auch irgendwie getrennt. Sie hält sich meistens in der Küche auf und versucht mit dem nicht vorhandenen Geld alle diese vielen Mäuler zu stopfen. Die Mutter wirkt immer müde, ausgelaugt, total erschöpft. Trotzdem versucht sie jedem Kind gerecht zu werden, scheint zu allen eine starke intuitive Beziehung zu halten. So besucht sie nachts immer den Schlafplatz (es gibt einfach nicht genügend Betten) der Kinder, die sie gerade am Nötigsten brauchen und gibt ihren Wildfängen somit ein Stück Frieden und Geborgenheit.
Der Vater
Er hält sich irgendwie aus allem raus. Er zeugt ein Kind nach dem anderen und baut keine Beziehung zu ihnen auf. Wie ein zerstreuter Professor ist er auf seine Erzsuche und die mitgebrachten Gesteinsproben fixiert. So ist es für jedes Kind ein absoluter Höhepunkt, wenn an einem Geburtstag seine Initiationsveranstaltung kommt. Dies beginnt mit dem 7. Ehrentag. Dazu sagt zum Beispiel Matz, der jüngste: „ich führte zum ersten Mal in meinem Leben ein Gespräch mit unserem Vater.“ Ab dem siebten Geburtstag wird jeder mit einem solchen kurzen zweisamen Moment mit dem Vater gefeiert. Traurig, oder?
Auch für die Kinder bleiben die Eltern rätselhaft:
Das Rätsel um unseren Vater, ein Phantom seines wahren Ichs, der seine Persönlichkeit vor uns verbarg, weil er sich von seiner Besessenheit für Steine tyrannisieren ließ. Und das Rätsel um unsere Mutter, die sich, wenngleich anwesend, den ganzen Tag in ihrer Küche verschanzte, verloren inmitten des Töpfeklapperns und der Kochdämpfe, und die, gerade weil sie immer da war, für uns unsichtbar war.
Familienaufstellung
Die Kinder erziehen sich gegenseitig. Durch die großen Altersunterschiede zwischen dem Jüngsten und dem Ältesten, gibt es immer jemand von dem man wichtige Dinge lernen kann. Allerdings geht es schon hart zu in diesem aufgegebenen Bergbauort und seinen Bewohnern. Die Cardinals halten sich für die Kings und tyrannisieren gerne jeden, der ihren Weg kreuzt. Sie sind arm, haben aber einander, wenn auch viel Gerangel und Rivalität zwischen den Geschwistern herrscht. Wie eine große Sportmannschaft.
Sie sind das pulsierende Zentrum des Städtchens welches wieder rund um eine Zinkmine entstanden ist. So heißt das Buch im Original auch „Les héritiers de la mine“, was mit „Die Erben der Mine“ übersetzt werden kann.
Wie man als Frau 21 Kinder austragen kann ist mir schleierhaft. Doch das gibt es zum Beispiel in einer englischen Familie. Im Buch geht es auch nicht um Familienplanung, sondern eher um das Leben in einer großen, solidarischen Gemeinschaft. Sie bekommt einen Riss, als ein Mitglied andere Wege geht und für diesen Loyalitätsbruch abgestraft wird.
Plötzlich wird aus der Gemeinschaft ein Haufen Einzelkämpfer.
Fazit
Eine Geschichte über eine sehr, sehr große Familie und ihr eigenes Unglück. Spannend, berührend, unglaublich. Rau und trotzdem zu Herzen gehend. Alles wird mit spielerischer Leichtigkeit erzählt, doch empfand ich das Ende als tiefgehend.
Hallo!
Mir hat Niemals ohne sie ebenfalls richtig richtig gut gefallen! Ich mochte es, wie man sich dank der Gedanken der verschiedenen Familienmitglieder der eigentlichen Tragödie immer weiter nähert, bis einen die Größe des Ganzen schier umhaut.
Liebe Grüße!
Gabriela
Hallo Gabriela,
Du hast recht, der Auf au des Buches ist wirklich spannend gemacht.
Viele Grüße
Silvia
Hallo Silvia,
auch ich habe dieses Buch gelesen und empfinde es als Highlight in 2019. Die Autorin schrieb sich mit ihrem letzten Buch „Ein Leben mehr“ in mein Herz. Das aktuelle ist ganz anders aber nicht weniger intensiv. Ein sehr gelungenes Buch, das ich auch auf jeden Fall weiter empfehle.
GlG, monerl
Liebe Monerl,
Ein Leben mehr hat mich noch ein wenig mehr berührt, weil Altern mehr mein Thema (und das meiner Eltern) ist. Ich weiss noch, dass ich es Anfang Januar gelesen hatte und dachte „Wow, kann ich jetzt schon mein Jahreshighlight gelesen haben?“. Dieses Gefühl hate ich diesmal nicht. Trotzdem tolles Buch!
Viele liebe Grüße
Silvia
Ich habe es auch gelesen und bin von der Geschichte sehr gegangen gewesen. Ein tolles Buch. Das du dir die mühe gemacht hast, alle Kinder heraus zu schreiben…WOW
Liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea,
es war tatsächlich nicht so einfach und hat etwas gedauert, bis ich alle beisammen hatte 😉
Viele liebe Grüße
Silvia
Hallo Silvia,
ich hab dich bei mir verlinkt: https://buchvogel.blogspot.com/2019/07/niemals-ohne-sie-jocelyne-saucier.html
Wie du fehlte mir die Auflistung aller Kinder, ich hab versucht, sie noch chronologisch zu sortieren. Für die Geschichte ist es ja eigentlich irrelevant, aber für mich fand ich es auch wichtig.
LG
Daniela
Hallo Daniela,
Vielen Dank für die Verlinkung.
Eine Sortierung nach Alter wäre tatsächlich interessant gewesen. Gute Idee!
Viele liebe Grüße
Silvia