Laura Cwiertnia: Auf der Strasse heißen wir anders
Sonntag, 8. Mai 2022
Armenische Familiengeschichte
Karlotta wächst in Bremen auf. Sie lebt bei ihrer deutschen Mutter. Ihr Vater ist Taxifahrer und gilt als Türke, ist aber eigentlich Armenier. Ein Armenier, der noch nie in Armenien war. Der Roman handelt von der Vergangenheit der Familie des Vaters, Karlottas Kindheit und einer gemeinsamen Reise von Vater und Tochter. Ja, ihr erratet es: nach Armenien. Dabei lernte ich viele Einzelheiten aus der Geschichte der Armenier im 20. Jahrhundert.
Das Buch beginnt mit einer Beerdigung. Karlas Großmutter ist gestorben. Eine Zeremonie mit armenischen Anteilen. Sie weckt Karlas Interesse, mehr über die Familie und die Heimat dieses Familienzweiges zu wissen. Als noch ein Erbstück an eine Armenierin vermacht wird, packt sie die Gelegenheit und ihren Vater um dorthin zu reisen und die verschollene Verwandte zu finden.
Perspektiven
Der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven geschrieben. Allen voran Karlotta, die sich im Laufe der Zeit zu Karla wandelt. Aus wessen Sicht gerade ein Teil der Geschichte erzählt wird, erfuhr ich immer am Anfang des Kapitels, die Überschrift entspricht dem Namen.
Doch es werden nicht nur Teile der Familiengeschichte aus verschiedenen Sichten erzählt, sondern alles auch noch rückwärts.
Ein Erzählstrang, der von Karla, verläuft in der Gegenwart und ist auch im Präsenz geschrieben.
Der andere Strang erzählt die Geschichte der Familie. Er beginnt mit Karlottas Kindheit und Jugend, geht über die Geschichte des Vaters, der Großmutter und führt so weiter immer weiter in die Vergangenheit.
Korrekturen
Das ist eine sehr spannende Konstruktion. So dachte ich zum Beispiel erst: was ist das für eine Mutter, die ihre Kinder ohne Abschied bei einem gewalttätigen Vater zurücklässt?
Da hatte ich natürlich erstmal sehr ungute Gefühle dieser Protagonistin gegenüber. Bis ich Stück für Stück hinter die Motive und die zugrunde liegenden Ereignisse kam. Sie wurde vieles rückwirkend korrigiert. Dauernd musste ich mich neu einstellen und meine Ansicht ändern. Das fand ich Diese Erzählweise lehrte mich mal wieder, dass ich nicht über Menschen urteilen sollte, bis ich nicht die wahren Beweggründe kenne.
Pogrom
Armenier sind ein verfolgtes Volk. Der Völkermord begann bereits mit Massakern Ende des 19. Jahrhunderts und gipfelte in einem systematischen Genozid während des ersten Weltkrieges.
nach dem zweiten Weltkrieg lebten viele Armenier in der Türkei. Dort gab es im September 1955 ein weiteres Pogrom in Istanbul und weiteren Städten in der Türkei.
Die Armenier die dies überlebten wurden ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt und gaben sich nach Außen als Türken aus. Das gibt diesem Roman auch seinen Namen:
Seit ihrer Kindheit legten sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen Meryem. …
„Auf der Straße heißen wir anders“ Das hatte ihre Mutter oft zu ihr gesagt, als sie noch klein war.“
Als weiterführende Lektüre empfehle ich Das Märchen vom letzten Gedanken von Edgar Hilsenrath und Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel. Beides Bücher, die ich vor ca. 20 Jahren gelesen habe und mir immer noch in Erinnerung geblieben sind. In beiden Romanen ist der Völkermord von 1915 das Thema.
Reise nach Armenien
Das Pogrom in der Türkei im Jahr 1955 brachten alle weiteren, vorher im Roman beschriebenen, Ereignisse in Gang. Eine lange Kette von Kausalitäten, die mit einem goldenen Armreif in der Schublade von Karlas Großmutter endeten. Oder eben nicht, weil Karla mit ihrem Vater nach Jerewan fliegt, Armenien und die Lebensart dort kennenlernt. Sie forschen dort auch nach Resten der Familie und versuchen hinter die Geschichte dieser Familie zu kommen.
So wird es für den Vater doch zu einer Art Reise in eine Heimat, die er vorher nie kennenlernte. Denn er wuchs in der Türkei und auch in Jerusalem auf.
Fazit
Auf der Straße heißen wir anders von Laura Cwiertnia ist ein sehr gut konstruierter Roman der berührt und auch manchmal amüsiert. Letzteres schafft die Autorin durch eine leichte Sprache und dem Vermögen auch immer etwas Gutes in üblen Situationen zu sehen. Das Buch brachte mich dazu, mich mit dem Schicksal des armenischen Volkes zu beschäftigen. Ein bemerkenswerter Debütroman.
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