Christoph Poschenrieder: Ein Leben lang
Sonntag, 22. Mai 2022

Kann ein Mörder mein Freund sein?
Eine Clique von Schulfreunden wird auf einen schweren Prüfstand gestellt: einer von ihnen soll ein Mörder sein. Der Roman setzt 15 Jahre später auf. Eine Journalistin spricht mit allen aus der Freundesgruppe um daraus vielleicht selbst ein Buch zu machen.
Die Clique
Sabine, Emilia, Benjamin, Till und Sebastian sind fast schon immer beste Freunde. Komplettiert wurde das Sextett durch einen weiteren jungen Mann, der eigentlich die Hauptperson des Romans ist, aber niemals mit Namen benannt wird. Hier heißt er nur „Der Gefangene“.
Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe und er ist er, oder <<unser Freund>>. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.
Sie haben schon viel zusammen gemacht, gefeiert und erlebt. Häufig trafen sie sich in einer kleinen Hütte an einem See. Grillten, schwammen, quatschten. Sie gingen miteinander durch dick und dünn. Sie bleiben auch später in Kontakt als die Jugend vorbei war und „der Ernst des Lebens“ begann. Eine Freundschaft, von der man nur träumen kann.
Doch die Tat, der Verdacht ändert doch irgendwie alles. Zum einen schweißt es sie sehr eng zusammen. Zum anderen grenzt es „ihn“ auch aus. Entsteht dadurch nicht eine neue Gruppe?
Das Einzige, was an unserer Gruppe speziell war, war, dass einer fehlte. Eine Gruppe um einen herum, der fehlte. Und in der Mitte ein Loch. Oder als würdest du auf deine Hände schauen und, sagen wir, der Ringfinder der linken wäre weg. Trotzdem hast du zwei Hände, oder? Ich kapier’s heute noch nicht: Mit wie vielen Fingern ist eine Hand eine Hand?
Für mich Bemerkenswert: ist eine Hand mit sechs Fingern (so viele sind in der Ursprungsgruppe) auch eine Hand? Meint der Sprecher, die Gruppe ist ohne den Gefangenen komplett ist?
Die Struktur des Buches
Eigentlich ist es eine Art Notizbuch der Journalistin. Der Gefangene ist jetzt seit 15 Jahren im Knast. Er hat nie ein Geständnis abgelegt. Vielleicht eine gute Gelegenheit alles nochmal aufzunehmen und Artikel oder gar ein Buch zu veröffentlichen?
Die Journalistin nimmt Kontakt zu allen aus der Clique auf und bittet um Interviews. Zu den einzelnen Phasen der Tat und des Prozesses kommen die Freunde zu Wort, immer sehr subjektiv. Seltener auch Der Gefangene. Sie entsteht ein Bild der Ereignisse aus verschiedenen Sichten. Das ist sehr spannend gemacht. Denn natürlich haben nicht alle dieselben Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, oder haben einiges schon immer anders gesehen.
Inhaltlich wird so die Zeit von der Tat bis zur Anklage, der Prozess selbst und das Urteil aufgearbeitet. Somit schon chronologisch, aber aus sehr viel späteren Perspektiven.
Kein Krimi
Das Buch ist spannend, aber kein Krimi. Obwohl es einen Kriminalfall behandelt.
Aus meiner Sicht geht es nicht um eine Auflösung, sondern darum, was mit dieser Freundesgruppe passiert, als einer von ihnen ein Mörder sein soll.
Hier zeigt sich auch die Stärke dieser Freundschaft. Alle stärken Dem Gefangenen den Rücken. Vor allem während des Prozesses, so langwierig er sich auch gestaltet. Das ist bewundernswert.
Besonders interessant: sie fragen ihn nicht, ob er seinen Onkel getötet hat.
Mir ist nicht ganz klar, ob sie Angst vor der Antwort haben, oder einfach von der Unschuld überzeugt sind.
Wir hätten uns früher fragen müssen, ob wir zu ihm halten, weil er es nicht getan hat, oder obwohl er es getan hat.
So ist der Titel „Ein Leben lang“ schön doppeldeutig: Lebenslang im Knast, aber auch echte Freundschaft kann lebenslang bedeuten.

Was würde ich machen?
Wie würde ich reagieren, wenn eine sehr gute Freundin des Mordes angeklagt werden würde? Könnte ich mir vorstellen, dass sie die Tat durchgeführt hat? Also ich würde sie fragen, ob sie es war. Ich würde es wissen wollen. Und ihre Antwort glauben. Ob die Verbundenheit bestehen bleiben würde? Das hängt sicher von der Tat, dem Opfer, den Motiven ab.
Auch ich könnte sicher unter bestimmten Umständen zur Mörderin werden. Welche das wären? Keine Ahnung. Ich hoffe, das tritt nie ein.
Schuld
War er es, oder war er es nicht? Das ist in diesem Buch eben nicht die Frage.
Es gibt einen Indizienprozess, kein Geständnis, keine eindeutigen Beweise. Aber einen Schuldspruch.
Der Gefangene sagt mal im Buch:
Beweise, dass ich es nicht getan habe. Oder Beweise, dass ich es getan habe. Aber sag nicht: Ich hätte es nie, nie tun können, weil – ja, warum? Weil ich ein guter Mensch bin? Sind wir doch alle. Und alle tun schreckliche Dinge. Sieh dich nur um.
Fühlt er sich vielleicht schon deshalb schuldig, weil er es getan haben könnte? Kann er deshalb die Strafe akzeptieren? Allerdings bleibt ihm auch nichts anderes übrig.
Fazit
Ein Leben lang von Christoph Poschenrieder ist ein wunderbares Buch über Freundschaft. Eine spannende Chronik eines Verbrechens. Der Roman hat mich sehr zum Nachdenken angeregt.
Weitere Bücher über Freundschaft
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Orkun Ertener: Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)
Lisa Krusche: Unsere anarchistischen Herzen
Salih Jamal: Das perfekte Grau