Lisa Krusche: Unsere anarchistischen Herzen
Sonntag, 6. Juni 2021
Zwei Teenager sehen rot
Zwei Mädchen leiden sehr unter dem Verhalten ihrer Eltern. Die von Charles (kein Tippfehler, sie hat einen Männernamen) haben kein Geld aber psychische Probleme, Gwens Eltern sind wohlhabend aber gefühlskalt. Die zwei Teenager gehen sehr unterschiedlich damit um.
Das Buch wird abwechselnd aus den Perspektiven von Charles und Gwen erzählt. Es dauert auch etwa bis zur Mitte des Romans, bis sie sich endlich treffen. Das ist wie Liebe auf den ersten Blick. Danach sind sie mental untrennbar. Unterstützt werden sie von Sinan, dem ruhenden Pol des Romans. Ein toller Typ über den ich mir auch ein Buch wünschen würde.
Charles
Sie wird von den Eltern gezwungen, von Berlin in ein Kaff in der Nähe von Hildesheim zu ziehen. Damit kann sie überhaupt nicht umgehen. Sie wird einfach verpflanzt und droht einzugehen.
Von außen könnte man Charles Eltern für irgendwie cool halten. Sehr unkonventionell. Künstler der eine, was auch immer die andere. Einiges kann man als lustig ansehen. Wie zum Beispiel der erste Satz des Buches „Papa rennt nackt durch Charlottenburg.“ Doch für Charles ist das ganz und gar nicht zum Lachen:
Ich denke an Sartre. Dass er vollkommen unspezifisch war. Die Hölle, das sind nicht einfach die anderen. Die Hölle, das sind die Eltern.
Sie hat auch gute Erinnerungen. Vor allen an ihren Vater. Wie er sie in Literatur und Kunst eingeführt hat. Wie sie zusammen Filme gesehen haben. Doch das ist vorbei, das war früher:
Früher hat Papa anders über Kunst gesprochen. Früher hat er auch keine Hähnchen gemacht. Früher haben wir zusammen Filme geschaut. Früher ist eben und früher ist eine Ewigkeit. Ein ganz anderes Leben, das sich aufgelöst hat.
Sie wirkt schon sehr erwachsen und selbständig, hängt aber auch an ihrem Stofftier, einem Oktopus, der sie in seine vielen Arme nimmt und mit dem sie tiefsinnige Gespräche führt. Es gibt auch eine tolle Szene, in der sie Hilfe sucht und sich ein Beraterteam aus Stofftier, Pony, Hund und Palme zusammenstellt.
Pippi Langstrumpf?
Charles ist unheimlich stark. Ihre Stärke geht fast über ihre eigenen Kräfte. Sie versucht zum Beispiel die Fehler ihrer Eltern bezüglich ihres jüngeren Bruders auszugleichen. Das ist manchmal richtiggehend herzzerreißend. Eine wunderschöne Szene im Buch ist zum Beispiel seine Geburtstagsfeier. Ohne Eltern. Die zwei, also Charles und ihr Bruder, werden auch ein wenig aufgefangen von den Menschen, bei denen die Eltern mit ihnen eingezogen sind.
Wegen der Stärke und der Unabhängigkeit, die sie zwangsläufig lebt, vergleiche ich sie innerlich mit Pippi Langstrumpf. Dazu passt auch prima, wie sie mit einem Pony durch Hildesheim reitet.
Sie nimmt die Stelle eines Elternteils bei ihrem Bruder ein und versucht das gezwungenermaßen auch beim eigenen Vater. Die Mutter braucht das nicht, diese kümmert sich allerdings nur um sich selbst. Auch Eltern sind schon mal überfordert und schwach (etwas, was ich auch schon längst weiß).
Was auf Außenstehende lustig und unbeschwert wirkt, ist für Charles Schwerstarbeit.
Gwen
Gwen ist echt hart drauf: sie macht bei einer Art Fightclub per App mit und prügelt sich. Sie schläft mit Typen, beklaut sie und verteilt das Geld an Bedürftige. Wenn Charles Pippi ist, ist Gwen in diesen Momenten eine Art Robina Hood.
Dann hat sie noch eine Beziehung zu Mo. Aber ist das Liebe? Oder geht es nur um Spaß? Kann sie bei ihm die gesuchte Nähe wirklich finden?
Oder ist das alles reine Rebellion gegen die Eltern? Doch sie hält diese beiden Welten streng voneinander getrennt. So wie sie eigentlich nichts Persönliches an die Eltern offenbart. Bis auf das eine Mal, wo sie Charles zu einem Essen Zuhause einlädt, das Charles auch wunderbar nutzt, um sich vor Gwen zu stellen und alle anderen Abwesenden verdient vor den Kopf zu stoßen. Halt wie Pippi Langstrumpf.
Ist Gwen depressiv?
…weil ich nicht weiß, warum man das überhaupt starten sollte, Tage.
Zumindest ist vieles was sie denkt unendlich traurig:
…jede zuwendung hätte ich gerne als gif um es immer wieder abspielen zu können für die harten tage…
Gwen kann sich selbst nicht leiden:
…die meiste zeit beobachte ich mich von außen und mag gar nicht hinschauen…
Der Text von Gwen unterscheidet sich stilistisch von dem aus Charles Sicht. Gwen ist poetischer. Es gibt auch Gedicht Passagen:
Farbwelt
Farben spielen in Gwens Textpassagen eine große Rolle. Sie drückt ihre Stimmungen so aus. Da gibt es sehr viel blau, manchmal Gold und Silber. Gefährlich wird es, wenn sie Rot sieht. Sie empfindet häufig die Farben ganz anders als ich. Oder wie hast du rosa in deinem Gedankenbild belegt? Bei mir sieht das anders als bei Gwen:
Außenspiegel abtreten und Fensterscheiben einwerfen und Motorräder demolieren färbt die Welt ganz rosa, so ein Rosa wie an den Rändern des Horizonts, wenn die Nacht in den Tag übergeht.
Anarchie
Das altgriechische Wort Anarchie lässt sich mit „Herrschaftslosigkeit“ übersetzen. Viele Jugendlichen lassen sich von ihrer Umwelt beherrschen. Den Eltern, den Lehrern, ihren Mitschülern und heute wohl vor allem von den sozialen Medien und den dadurch entstehenden Zwängen.
Es ist irgendwie die Aufgabe von jungen Menschen sich auszutesten, sich aufzulehnen und einen eigenen Weg zu finden. Das ist zwar nicht wirklich Anarchie, ich würde es eher Coming of Age, Erwachsenwerden, nennen. Den jungen Menschen von heute steht buchstäblich alles offen. Nie waren die Möglichkeiten so vielfältig und herkunftsunabhängig (auch wenn in diesem Punkt sicher noch viel Verbesserungsbedarf besteht). Doch das kann auch zu einer Bürde werden.
Wir sind so gottverdammt begabt in alle Richtungen, wir könnten wirklich einmal die Welt regieren, aber wir werden es nicht wollen, wegen unserer anarchistischen Herzen.
Es gibt noch einige Aspekte, die mir aufgefallen sind, z.B. Gwens Sucht nach Zucker, ihr lockerer Umgang mit Sex, das Verhältnis der beiden zu ihren Brüdern, dieser Typ mit Hund, der immer wieder auftaucht… Aber ein wenig müsst ihr auch noch selbst lesen.
Fazit
Unsere anarchistischen Herzen von Lisa Krusche ist ein vielseitiger Debütroman, der den Zeitgeist de Generation Z widerspiegelt. Krusche verbindet gekonnt Prosa und Poesie miteinander. Eindringliche Darstellungen des Schmerzes von Jugendlichen, die versuchen sich von den Unfähigkeiten der Eltern nicht unterkriegen zu lassen. Charles und Gwen machen Mut. Sie zeigen mir, dass Freundschaft und Liebe zueinander vieles erleichtern kann. Und so ein kleines bisschen ist das Buch eine Liebeserklärung an das Leben in einer Kleinstadt, hier Hildesheim.
Weitere Rezensionen
Passend möchte ich euch folgende Bücher ans Herz legen. Nach dem Motto „wem dieses Buch gefällt, dem könnten auch folgende gefallen:
Drei Kameradinnen von Shida Bazyar
Hardland von Benedict Wells
Hawaii von Cihan Acar
Streulicht von Deniz Ohde
Hallo liebe Silvia,
hm, also ich denke…die Macht der Eltern in der heutigen Zeit wird zu sehr überbewertet..
Ich persönlich finde, die Jugendlichen lassen sich eher von Medien..Internet…und sozialen Kanälen verführen/leiten….der Rat der Eltern ist doch eher als uncool angesehen ….oder?
Und außerdem jeder muss seine Erfahrungen machen, denn sie sind für das eigene, selbst bestimmte Leben wichtig und richtig….
Hm, was bedeutet eigentlich in Deinem Fazit….Unfähigkeiten der Eltern nicht unterkriegen zu lassen?
LG…Karin…
Hallo Karin,
bei zwei Töchtern habe ich auch festgestellt, das meine „ Macht“ nur sehr begrenzt ist. Gleichwohl stelle ich gewisse Anforderungen an sie.
In diesem Buch nehmen die Eltern ihre eigenen Pflichten nicht wahr. Die von Charles kümmern sich nur um eigene Probleme, die von Gwen regeln alles mit Geld und wollen in erster Linie eine repräsentative Tochter. Das meinte ich mit Unzulänglichkeiten im Fazit.
Viele Grüße
Silvia
Hallo liebe Silvia,
ab einem gewissen Alter ist es eher ein Geben und Nehmen …auch wie in einer guten Beziehung.
Denn als Eltern finde ich ist man nicht dauert in der Pflicht……nur immer alles zugeben und nichts zu erhalten…
So sehe ich das zumindest…..irgendwann ist jeder für sich selber verantwortlich und den Mist, den jeder selber baut….
LG…Karin..
Da hast du vollkommen recht, liebe Karin.
Ich muss das noch üben…
LG
Silvia