Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne
Sonntag, 30. Mai 2021
Technikfreier KI-Roman
Klara und die Sonne ist der erste Roman, den Kazuo Ishiguro nach dem Erhalt des Literaturnobelpreises vorlegt. Die Ich-Erzählerin ist Klara. Eine Androidin, eine künstliche Intelligenz in menschlicher Form. Dafür geschaffen, die beste künstliche Freundin eines heranwachsenden Menschen zu sein. Da KI unser Leben schon viel stärker tangiert als viele glauben, lese ich gerne Romane zu diesem Thema. Doch der technische Aspekt interessiert Ishiguro überhaupt nicht. Er stellt ganz andere Themen in den Vordergrund seines Buches.
Klara
Klara ist sehr jung, naiv und sehr lernwillig. Alle Eindrücke die sie bekommt, verarbeitet sie und fügt sie zu dem, was sie schon weiß. So verfeinert sie ihr Weltbild ständig. Das ist ihre Haupteigenschaft, denn Klara ist eine künstliche Intelligenz. Ein Android, der als „KF“, also künstliche Freundin, dafür geschaffen wurde, einem oder einer Jugendlichen als Freundin beizustehen. Das ist ihr Ziel. Doch dafür muss sie gekauft werden. Sehnsüchtig wartet sie darauf.
Am Anfang „lebt“ die Ich-Erzählerin Klara in einem Geschäft für künstliche Freunde und Freundinnen. Ab und zu darf sie im Schaufenster posieren. So kann sie auf die Straße sehen und alle Eindrücke aufnehmen und verarbeiten. Und so kann auch sie gesehen werden. Ich musste daran denken, wie in meiner Kindheit Tierhandlungen Welpen im Schaufenster herumtollen ließen, um Kunden anzulocken. Klara hat auch etwas von einem Welpen, weil einfach alles neu für sie ist. Ishiguro nannte sie bei einer Lesung „ein leeres Gefäß“.
Maschine
Klara ist eine Maschine, darum isst und trinkt sie auch nichts. Doch Energie benötigt sie natürlich auch: sie wird von der Sonne gespeist. Immer wieder haben Klara und ihre „Artgenossen“ Angst nicht genügend in der Sonne zu stehen und nicht mehr genug Energie zu haben. Ihre Beziehung zur Sonne hat schon fast etwas Religiöses. Dies steigert sich im Laufe des Romans immer mehr. Klara ist intelligent. So kann sie in einer Szene einen schwierigen Test lösen und nebenbei noch andere Dinge machen. Allerdings hat sie demgegenüber auch ziemliche Mankos. So spricht sie zum Beispiel von allen anderen in der dritten Person. Das wirkt sehr unnatürlich. Dafür hat sie es aber raus, über sich selbst in der ersten Person zu sprechen und zu denken. Eine Leistung, für die Kinder zum Beispiel länger brauchen. Das irritierte mich sehr. So hört sich einiges sehr ungelenk an, obwohl es ja wohl nicht so schwer sein kann die technischen Fähigkeiten einzubauen von „Du“ zu sprechen.
Interessant finde ich, wie Ishiguro beschreibt, wie Klara die Welt wahrnimmt. Vor allem ihr Sehvermögen. Wenn sie gestresst oder aufgeregt ist, nimmt sie alles als „Felder“ wahr. Diese ergeben insgesamt kein ganzes Bild. Einige Bilder überlagern sich dabei, manche Details werden viel größer gezeigt, als sie im Verhältnis zu dem Rest in der Realität sind. Dadurch kann sie wichtige Details in den Vordergrund stellen. Und Beobachtung und Einordnung des Gesehenen ist das, womit sie sich am meisten beschäftigt.
Vermenschlichung
Klara sieht aus wie ein Mensch, ist aber wohl auch auf den ersten Blick als Android zu erkennen. Unter den Robotern gibt es Rivalitäten, zum Beispiel, was das Modell und die individuellen Fähigkeiten betreffen. Jeder dieser KFs ist einzigartig. Keine ist die exakte Kopie einer anderen. So wie beim Menschen.
Bis auf wenige Ausnahmen wird Klara durchweg sehr respektvoll behandelt. In einer Situation wird sie aufgefordert wie ein dressiertes Hündchen Kunststücke zu zeigen. Da erstarrt sie. Sie verweigert sich. Wie ein Kind, das nicht Flöte spielen möchte, wenn die Tante mal zu Besuch ist.
Sie kann sich Ziele setzen und Strategien zur Erreichung ersinnen.
Als Josie sie kaum noch braucht, ist Klara auch damit zufrieden in einer Art Abstellkammer herumzustehen. Sie ist in dieser Situation sicher kein Mensch. Sie hat eindeutig keine Gefühle. Oder doch?
Doch wir sahen auch noch anderes von unserem Fenster aus – andere Gefühlsregungen, die ich erst nicht verstand von denen ich dann aber einige Spielarten in mir entdeckte, auch wenn sie vielleicht nur wie der Schatten waren, den die Deckenlampen bei herabgelassenen Rollläden auf den Boden warfen.
Die Laufzeit scheint auch nicht langfristig angelegt zu sein. Es wird keine Zeit benannt, aber mehr als ca. zwei Jahre kann es eigentlich nicht sein. Am Ende ihrer Existenz angekommen, erkenne ich, dass ihr die Hinfälligkeit ihres „Körpers“ egal ist. Ihr reicht es, wenn ihre CPU funktioniert. Sie verbringt ihre Zeit mit „Nachdenken“. Obwohl sie die Erkenntnisse niemanden mehr mitteilen kann, einfach weil niemand da ist. Doch Einsamkeit scheint sie nicht zu empfinden.
Josie
Josie ist ein junges Mädchen. Sie träumt von einer künstlichen Freundin. Eines Tages sieht sie Klara im Schaufenster. Beide wissen: das wäre die Richtige! Wie Liebe auf den ersten Blick. Da kann man schnell vergessen, dass Klara eine Maschine ist und höchstens einprogrammierte Gefühle hat.
Josie ist allerdings ein Mensch. Mit all seinen „Fehlern“. So ist sie zum Beispiel nicht gesund. Woran das liegt, wird nie richtig erklärt (wie eigentlich gar nichts richtig geklärt wird in diesem Roman), doch es wird erwähnt, dass es sich um eine Genomveränderung handelt. Eine Editierung des eignen Genoms, um die eigenen genetischen Vorgaben zu verbessern. Die hier beschriebene Gesellschaft nennt das „gehoben werden“.
Das ist sehr riskant und führt oft zum Tod des Patienten. Doch wie soll ein junger Mensch in der Leistungsgesellschaft bestehen, wenn nicht alles optimal angelegt ist? Ein hervortretendes Thema des Romans.
Klara ist recht zurückhaltend, süß und wirkt sehr nett. Sie hat auch noch einen Freund, der nicht gehoben ist. Sie sind trotz der Unterschiede eng verbunden.
Umfeld
Aus einigen Randbemerkungen wird klar, dass dieses Buch in den USA spielt. Vielleicht in einer nahen Zukunft? Die Leistungsgesellschaft und die Klassenunterschiede scheinen noch viel stärker ausgeprägt als heute. Aber sind wir wirklich so weit davon entfernt? Doch für das Buch ist es total uninteressant wann und wo es spielt. Es wird schließlich auch aus der Sicht von Klara beschrieben, für die das nicht von belang ist. Für Klara zählt nur das Wohlergehen von Josie. Dafür würde sie alles andere aufgeben. Sich selbst zerstören zum Beispiel, oder auch Josies Körper aufgeben, damit ihr Geist weiterlebt. Schließlich hat der Körper selbst für Klara nur eine untergeordnete Rolle.
Umwälzungen in der Vergangenheit werden anhand des Werdegangs von Josies Vater angedeutet. Individualismus ist nicht gefragt. Auch Klara weiß nicht sehr viel von der Gesellschaft in der sie existiert, allerdings ist Klassenbewusstsein oder vielmehr die Einordnung in Strukturen sehr wichtig für sie, um die neuen Eindrücke sortieren zu können.
Die Jugendlichen aus dem Buch werden bis zum College online von Zuhause unterrichtet (kommt mir bekannt vor). Doch wenn sie ins College kommen, was natürlich eine Eliteschule sein sollte, werden sie das ihr Heim verlassen und mit anderen Schülern zusammenzuleben. Um solche sozialen Interaktionen zu üben, gibt es vorher regelmäßige Treffen. Diese jungen Menschen sind also eher einsam und überbehütet. Deshalb wohl auch der Markt für die künstlichen Freund*innen. Dadurch soll die Einsamkeit gelindert werden.
Künstliche Intelligenz
Die KFs, also die künstlichen Freund*innen scheinen auch eine recht kurze Modeerscheinung gewesen zu sein. Soviel kann ich aus der Schlussszene des Romans herauslesen.
Ob sie nicht mehr gebraucht wurden, oder bewusst abgeschafft wurden wird nicht ganz klar. Denn auch in dieser Gesellschaft, in der diese Androiden zum Straßenbild gehören, gibt es Vorbehalte gegen sie:
Tatsache ist, dass es zunehmend Bedenken wegen der KFs gibt. Es heißt, ihr würdet allmählich zu schlau. Die Leute fürchten sich, weil sie nicht mehr verstehen, was in euch vorgeht. Sie verstehen nicht, was ihr tut. Sie anerkennen, dass eure Entscheidungen, eure Empfehlungen vernünftig und verlässlich sind, und fast immer korrekt. Aber dass sie nicht wissen, wie ihr dazu kommt, das passt ihnen nicht.
Das sind die gleichen Vorbehalte die auch wir gegen künstliche Intelligenz und Supercomputer haben. Wir Menschen sind in der Lage Geräte zu bauen, die wir dann vielleicht nicht mehr kontrollieren können. Eine Eigenschaft einer KI ist es zu lernen. Was, wenn sie schlauer werden als wir? Sicher eine Angst der Menschheit. Im Grunde wissen wir wohl auch, dass da nicht viel zugehört. Vielleicht machen wir Menschen uns dadurch selbst überflüssig.
KI ist jetzt schon überall. Es gibt in sehr vielen Bereichen selbstlernende Algorithmen. Was wir noch nicht können, sind Androide zu bauen, die wirklich aussehen wie ein Mensch.
Die moralische Frage in Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen, ist immer auch: sind die Roboter vielleicht die besseren Menschen? Weil sie nicht von Gefühlen gesteuert werden?
Genre?
Das Buch hat durchaus einen dystopischen Charakter, doch würde ich es nicht als Dystopie bezeichnen. Denn eine Verbesserung oder Veränderung der vorliegenden Zustände wird von den Personen nicht angestrebt. Sogar die, sie aus der Gesellschaft mehr oder weniger ausgeschlossen werden, wie z.B. Josies Vater, lehnen sich nicht wirklich auf. Sie leben nur neben der Gesellschaft. Vielleicht handelt es sich eher um eine Utopie.
Warum?
Worum geht es Ishiguro eigentlich in diesem Buch?
Das ist mir nicht ganz klar. Sehr viel Themen werden angesprochen. Manches wirkt wie ein Märchen, da es aus der naiven Sicht von Klara erzählt wird. Sie sucht ein wenig das Ende des Regenbogens, oder vielmehr den Platz, an dem die Sonne schlafen geht, um dort Hilfe zu erbitten. Das liest sich ein wenig wie bei Alice im Wunderland. Oder halt eben eine religiöse Pilgerreise.
Ich weiß nicht genau, was „Ish“ (wie ihn wohl Freunde nennen dürfen) aufzeigen möchte. Doch ich merkle, wenn mich jemand nach dem Buch fragt, dass ich erst zögere und dann ungebremst darüber rede, was mir aufgefallen ist, was mir gefiel, was mich berührte. Auch ziehe ich viele vergleiche zu anderen Romanen, in denen eine KI, oder Androiden eine Rolle spielen. Zum Beispiel Maschinen wie ich von Ian McEwan. Auch hier wird der Roboter vermenschlicht, hat aber ein viel stärkeres Eigenleben. Bildet eine eigene Persönlichkeit aus. Er ist auch mit anderen zielen programmiert. Ich darf nicht den Fehler machen und zu viel Menschlichkeit in diesen Maschinen sehen.
Stil
Ishiguro kann komplexe Themen einfach formulieren. Er versteht es, durch Konzentration auf das Wesentliche seine Geschichten zu erzählen.
Mir ist sehr aufgefallen, dass die meisten Protagonisten in diesem Buch sehr höflich und respektvoll miteinander umgehen. Ich glaube daran lag es, dass ich vor meinem inneren Auge den handelnden Personen asiatische Züge gegeben habe. Obwohl ich ja weiß, dass Ishiguro schon als Kind nach Europa kam.
Der Text ist ruhig, unaufgeregt. Es gibt nur wenige Szenen, in denen so etwas wie Spannung aufkommt. Sprachlich eher einfach gehalten. Doch darin liegt auch eine große Kunst. Ich denke, ich sollte mal einen Roman von ihm auf Englisch lesen.
Lesung
Am 6.5.2021 gab es eine Lesung mit Kazuo Ishiguro als Onlinestream. Organisiert vom Netzwerk der Literaturhäuser. Über 2000 Menschen waren live dabei, als Julika Griem und „Ish“ über dieses Buch geplaudert haben. Den deutschen Text las Valery Tscheplanowa.
Ishiguro selbst ordnete Klara und die Sonne dabei übrigens irgendwo zwischen Utopie und Dystopie an.
Es wurde viel über das Motiv „Spiegel“ diskutiert. Es kommt häufig im Buch vor.
Er erzählt auch, wie er vor Jahrzehnten den Film 2001 Space Odyssee sah. Einige Szenen wirkten auf ihn wie Kunst-Installationen. Sie waren das Vorbild für die Art, wie Klara die Welt visuell wahrnimmt. Schon damals wollte er diese Effekte unbedingt in einem Buch verwenden. Ein Film, den ich mir mal wieder ansehen sollte. Gespannt bin ich auf die Verfilmung von Klara und die Sonne, ich rechne fest damit.
Fazit
Klara und die Sonne vom Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro ist ein ruhiges Buch, das mich sehr zum Nachdenken anregte. Wenn ich auch nicht weiß, was seine eigentliche Botschaft sein sollte, kann ich doch vieles auf unsere Gesellschaft übertragen. Es ist aus meiner Sicht wichtig, sich auf vielfältige Art mit dem Thema KI auseinanderzusetzen. Denn sie ist in unserem Alltag bereits allgegenwärtig. Das fängt schon bei der Nutzung einer Suchmaschine an.
Ich kann auch von Klara lernen, fest ein Ziel im Auge zu halten. Sie kennt ihren Platz in der Welt und den Sinn ihrer Existenz. Dadurch ist sie mir einen Schritt voraus.
Andere Bücher zu künstlicher Intelligenz
Maschinen wie ich von Ian McEwan
Tyrannei des Schmetterlings von Frank Schätzing
Hologrammatica von Tom Hillenbrand
Hallo liebe Silvia,
Danke für diesen umfangreichen Einblick in den Roman.
Hm, erinnert mich in einigen/vielen Teilen z.B. auch an Real Humans – Echte Menschen….eine schwedische Serie, die ich mal im TV gesehen habe …..oder auch an Blade Runner…
Interessant finde ich hier die Vielschichtigkeit mit welcher der Autorin hier die KI bedankt und uns Menschen zeigt, wie besser vielleicht eine KI sein kann…….oder werden wird wenn man sie denn lässt…..
LG…Karin..
Hallo Karin,
Real Humans habe ich auch recht begeistert gesehen. Könnte ich auch nochmal schauen, ist schon ein paar Jahre her.
Was die Länge des Beitrags angeht: ich wusste Anfangs nicht was ich schreiben soll. Doch eine Freundin hat mich nach dem Buch gefragt, da sprudelte es plötzlich aus mir heraus. Im Gespräch hatte ich plötzlich viele wichtige Aspekte im Kopf. Den Beitrag habe ich schon nach dem ersten Entwurf um 500 Worte gekürzt…
Liebe Grüße
Silvia