Salih Jamal: Das perfekte Grau
Sonntag, 14. Februar 2021
Flucht und Freundschaft – Rezension
Vier Menschen treffen in einem sehr renovierungsbedürftigen Hotel aufeinander. Sie alle arbeiten dort für recht wenig Geld. Eine weitere Gemeinsamkeit: alle sind auf der Flucht. Keiner weiß wohin, drei wissen immerhin wovor sie flüchten. Salih Jamal hat einen Roman über Freundschaft geschrieben. Und auch über den Sommer. Meistens ist es heiß. Die Sonne brennt. Für mich ein gutes Buch für kalte Winterabende. Ich könnte mir aber auch vorstellen, es schwitzend in der Sonne liegend zu lesen. Das perfekte Grau ist im Septime Verlag erschienen.
Dante
Der Ich-Erzähler heißt eigentlich Ante. Im Klappentext wird er als Tagedieb beschrieben. Er ist eigentlich nur auf der Flucht vor sich selbst. Ohne Ziel. Eigentlich hatte er es gut, dort wo er war. Doch alles wurde ihm wohl zu eng. Er sucht nach einem Ziel. So ist er vielleicht eher auf der Suche als auf der Flucht. Dante erzählt am wenigsten von sich selbst. Die Hauptfiguren sind eigentlich die anderen drei: Rofu, Mimi und Novelle. Dante wirkt wie eine Art Katalysator. Er bringt und hält es zusammen, dieses seltsame Kleeblatt.
Ganz am Ende des Buches steht Dante vor einer Entscheidung. Diese Situation hat der Autor übrigens hervorragend gelöst! Wie? Das kann ich jetzt wirklich nicht verraten.
Mimi
Dante ist ein wenig verliebt in die ältere Mimi. Eigentlich ist sie eine Macherin und leitet quasi das Hotel. Natürlich auch unterbezahlt. Anfangs dachte ich irgendwie, sie wäre Französin; später wurde auch mir klar, dass sie aus Großbritannien stammt. Sie finanziert die Reise, die das Buch erzählt. Denn sie ist die Einzige, die etwas auf die hohe Kante gelegt hat. Sicherheitshalber, falls sie weiter flüchten muss. Denn sie hat in England etwas schreckliches, aber verständliches getan. Sie flüchtet tatsächlich vor der Polizei. Das Buch kommt in Bewegung als sie glaubt, sie wurde von Ermittlern ausfindig gemacht. Ich habe aber das Gefühl, sie leidet da unter Verfolgungswahn. Auch eine Flucht vor Strafverfolgung ist eine Art Flucht vor sich selbst. Das erkennt sie irgendwann.
Rofu
Mein Lieblings Character. Er ist der „klassische“ Flüchtling. Rofu kommt aus Afrika. Aus einem Land ohne Zukunft. Doch er ist kein reiner Wirtschaftsflüchtling. Die erlittene Gewalt hat starke Spuren an seinem Körper hinterlassen. Seine Geschichte erzählt er sehr poetisch. Dadurch wird sie für mich als Leserin etwas erträglicher. Trotz seiner Vergangenheit ist er oft fröhlich. Außerdem ein wunderbarer Tänzer. Er fällt, wenn er sich aufregt und spricht, oft ins Englische. Riesig und einsam arbeitet er in dem Hotel als Koch. Sicher auch unter Mindestlohn.
Sein größter Besitz: ein falscher Pass, sehr gut gefälscht. Er hat ihn noch nicht benutzt. Dies will er erst machen, wenn er angekommen ist. Wo das wohl sein wird?
Novelle
Sie flüchtete vor ihrem Vater. Aus einer Heimat, in der ihr niemand beistand. Ihre Geschichte ist auch sehr traurig und hat sie kaputt gemacht. Ihre Entwicklung ist die größte im Laufe des Romans. Sehr unkonventionelles Äußeres, so fällt sie überall auf. Eigentlich arbeitet sie permanent an der Selbstzerstörung. Sie säuft, geht jeden Abend auf die Rolle. Niedrige Gewaltschwelle. Bis sie sich verliebt. Dann wird plötzlich eine fröhliche junge Frau aus ihr. Doch das wird schnell zerstört. Ihr fällt es sehr schwer sich auf die anderen drei wirklich einzulassen. Freundschaft scheint ihr fremd. Doch sie lernt dazu. Die anderen versuchen sich gut um sie zu kümmern.
Flucht
Sie flüchten gemeinsam. Mit verschiedenen Verkehrsmitteln. Per Boot, mit geklauten Rädern, mit dem Zug. Und immer wieder zu Fuß. Längs durch Deutschland, bis Österreich. Sie versuchen sich Ziele zu setzen. Manche haben sich bei Erreichen schon selbst überholt. Zwischendurch wird gemeinsam gearbeitet, zum Beispiel auf Erdbeerfeldern. Sie scheinen unzertrennlich. Und doch gehen zwei verloren. Diese Freundschaftsgeschichte ist sehr schön. Immer wieder auch ein wenig traurig. Die ganz große Offenheit schaffen sie irgendwie auch nicht, ein paar Geheimnisse behält jeder für sich. Doch gemeinsam sind sie stark. Sie haben viele Musketiermomente: Einer für alle, alle für einen. Sie entwickeln gemeinsam Pläne, Träume und versuchen auch unmöglich erscheinendes umzusetzen. Dabei kommen sie sehr weit. Am Ende steht das Ziel: wieder vereint zu sein.
Orte
Immer wieder findet die Gruppe auch Zeit zum Innehalten. Dabei sind sie oft an besonderen Orten. Auf einer Art Sandbank vor der Küste. Auf einem Segelboot. An einem vergessenen See. Auf einem kleinen Bauernhof. Oder auch ein paar Tage auf einem Hochsitz im Wald. Alles Orte die durch die bildhafte Beschreibung vor dem inneren Auge sehr wirklich werden. Diese Momente des Innehaltens nehmen immer ein wenig das Tempo raus, lassen auch mich zur Ruhe kommen. Das sind Momente im Buch wo ich denke: schön. Da wäre ich jetzt gerne dabei.
Gesellschaft
Jamal ist immer wieder sehr kritisch mit unserer Gesellschaft und aktuellen Entwicklungen. Der weltweite Umgang mit Flüchtlingen. Vorurteile gegenüber „nicht normierter“ Sexualität, Aussehen, Lebensweise. Missbrauch in der Familie ist ein Thema. Gewalt auch. Industrialisierte Landwirtschaft. Ausnutzen von Arbeitskräften. Profitgier.
Stil
Alles ist verpackt in eine sehr poetische Sprache. Kaum ein Absatz ohne Metaphern. Für meinen Geschmack manchmal etwa überfrachtet. Aber immer gut lesbar. Und dann wieder so viele zitierfähige Sätze und Bilder. Überhaupt sehr bildhaft. Gut geeignet für eine filmische Umsetzung.
Autor
Salih Jamal ist Jahrgang 1966 und lebt in Düsseldorf. Aufgefallen ist er mir durch seine starke Interaktion mit Bloggern (und natürlich auch anderen Menschen) in den sozialen Medien. Um ihn besser kennenzulernen habe ich ihn gebeten mir ein Interview zu geben. Dazu später mehr auf diesem Blog.
Fazit
Das perfekte Grau von Salih Jamal ist ein poetisches, an Metaphern reiches Buch über Flucht, Ankommen und vor allem Freundschaft. Interessante Protagonisten und eine abenteuerliche Reise längs durch Deutschland machen das Buch spannend. Der Schluss dieses Romans ist genial!
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