Nadine Schneider: Drei Kilometer
Mittwoch, 18. Dezember 2019
Rezension Debütroman
Nur drei Kilometer ist die Grenze entfernt von dem kleinen Dorf, in dem Anna mit ihrer Familie lebt. Im Sommer 1989 denken viele Rumänen an Flucht aus ihrem Land. Denn das Leben unter dem Diktator Ceaușescu ist kein Zuckerschlecken. Die Wirtschaft liegt am Boden, der Bevölkerung fehlt es an allem, viele hungern, vor allem die Menschen in der Stadt. Nadine Schneider beschreibt in ihrem Debütroman die letzten Monate in Rumänien unter Ceaușescu
Gehen oder bleiben?
Alle denken an Flucht in diesen Zeiten in Rumänien. Bis zur Grenze erstrecken sich im Herbst hohe Maisfelder, über zwei Meter hoch stehen die Pflanzen und würden dadurch Deckung bieten. Doch soll Anna es wirklich wagen? Was erwartet sie in der Fremde? Was ist mit ihren Freunden? Ihren Eltern? Ihrer greisen Großmutter?
Eigentlich möchte sie gar nicht weg. Wenn die Zeiten nicht so hart wären, würde sie lieber bleiben wollen. Der Hof, die Tiere, die Familie und Nachbarschaft. Die Sonne im Sommer und die Kälte im Winter. Sie liebt die Landschaft und das kleine Dorf. Doch das Leben in Rumänien ist, gerade als junger Mensch mit Träumen, kaum auszuhalten.
Doch was sind Annas Träume? Sie will mit den Menschen zusammen sein, die ihr wichtig sind. So auch ihr Freund Hans und Misch, ein gemeinsamer Freund des Paares. Die jungen Männer sprechen viel von Flucht. Anna will nicht weg.
Ich frage mich, warum uns das nicht reichte. Warum es uns nicht reichte, dass wir alle hier waren und an manchen Abenden eine gute Suppe aßen.
S. 23
Anna ist so bodenständig, so bescheiden, doch auch ohne Visionen.
Zur Flucht braucht es Mut, zum Bleiben aber auch.
Dreierbeziehung
Auf der ersten Seite dachte ich direkt: Anna ist mit Misch zusammen, sie liebt ihn. Doch Hans ist ihr Partner. Hans und Misch sind beste Freunde. Anna liebt auch Hans. Vor allem liebt sie die Beständigkeit. Eigentlich will sie keine drastischen Veränderungen.
Hans und Misch: sie schätzen einander sehr, fangen aber irgendwann an einander zu misstrauen. Vielleicht wegen Anna?
Hans und Misch: beide lieben Anna. Beide wollen mit ihr fliehen, aber nur zu zweit. Ist einer von ihnen ein Milizspitzel? Wem kann man noch trauen?
Mais
Das Maisfeld steht für die Verheißung von Freiheit. Doch was genau wartet dahinter, hinter der Grenze? Nicht nur die Gefahr erwischt zu werden, sondern auch die Ungewissheiten die nach einer geglückten Flucht lauern. Anna ist klar, dass Deutschland nicht gerade auf sie wartet. Auch dort wird sie kein Abitur machen können, wird Hans nicht studieren können. Auch dort müssen sie um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Was kommt, wenn sie alles Gewohnte hinter sich lässt? Die Familie, das Dorf, die Feste, die Landschaft?
Doch viel Zeit bleibt nicht. Nach der Maisernte wird die Flucht nahezu unmöglich. Der Tag der Maisernte heißt dort Kukruzbrechen:
Früher hieß das einen ganzen Tag Arbeit, und am Abend schälte man Maiskolben und erzählte dabei Geschichten. Heute klang das Wort wie eine zufallende Tür.
S. 68
Mit der Maisernte geht die Tür zur möglichen Flucht zu. Also müssen sie sich entscheiden: Misch, Hans und auch Anna.
Mut zur Lücke
Dieser kleine Roman könnte auch viermal so dick sein. So sehr ist er reduziert. Von den eigentlich sehr dramatischen, historischen Ereignissen wird eigentlich keines wirklich beschrieben, weder die Demonstrationen, noch der Prozess der später Ceaușescu und seiner Frau gemacht wird. Nicht die erzwungenen Besuche bei der Miliz, keine Fluchtgeschichten, nicht die Reise des Vater nach Deutschland.
Die Stärke dieses Romans liegt für mich in den Dingen, die nicht erzählt werden. Nadine Schneider konzentriert sich ganz auf die kleine Welt von Anna, die eigentlich nur zufrieden leben will. Der Tot einer Verwandten ist für sie wichtiger als Demos, Gewalt und Revolution in den Straßen der Stadt. Denn das Dorf bleibt davon fast unberührt. Wie eine kleine Insel.
Solche Tage erinnerten mich daran, dass noch eine Leichtigkeit in den Dingen steckte. Dass die Schwere sich nicht an alles gehängt hat. S. 25
S. 68
Anna ist nicht naiv. Nur bescheiden. Sie will nur an schönen Dingen und Bräuchen festhalten. Alles soll bleiben wie es ist. Bitte nicht schlimmer. Aber viel besser muss es auch nicht sein, damit sie Glück erleben kann.
Stil
Schneider benutzt eine unheimlich bildhafte Sprache. Ich sah alles vor mir: Ihr Zimmer, die Großmutter, die Fabrik und natürlich das Maisfeld. Ich konnte die Kälte des Winters spüren, ebenso wie die Wärme des Sommers.
Es gibt immer wieder so schöne, aber auch einfache Formulierungen wie zum Beispiel diese über Annas Vater
…er wirkte müde. Nicht müde von der Arbeit und wenig Schlaf, sondern müde von der Zeit.
S. 100
So schön: Müde von der Zeit. Eine wunderbare Formulierung.
Geschichte
1989 war auch in Deutschland ein Jahr der großen Veränderungen. Im November fiel die Mauer. „Drei Kilometer“ spielt zur gleichen Zeit. An vielen Deutschen sind die Veränderungen in Rumänien vielleicht vorbeigegangen, weil sie selbst mit einem neuen Leben konfrontiert waren. Ich erinnere mich dunkel an den Prozess und die Hinrichtung Ceaușescus. Es erinnerte mich stark an den Tod der Zarenfamilie 1918. Es lohnt, da mal nachzuforschen. So kann man die Ereignisse besser in einen historischen Kontext setzen.
Ich habe mich im Buch auch sehr über die deutschen Namen gewundert. Als nächstes werde ich mich noch über Banat und die Rumäniendeutschen informieren. Auch ein Thema, über das ich fast nichts weiß.
Autorin
Nadine Schneider ist knapp 30 Jahre alt und lebt in Berlin. Sie studierte Musikwissenschaft und Germanistik. Bisher sind von ihr bereits Kurzgeschichten in Anthologien erschienen. „Drei Kilometer“ ist ihr erster Roman und bekam für Auszüge daraus bereits einen Literaturpreis. Ihre Eltern sind rumänische Auswanderer, dadurch wurde sie wohl auch zu diesem Buch inspiriert. Bei Zehn Seiten liest sie ein Stück aus ihrem Buch vor.
Bloggerpeis
Dieser Roman steht auf der Shortlist des Bloggerpreises für das beste Debüt des Jahres 2019, der vom Blog „Das Debüt“ ausgelobt wird. Die Jury, zu der auch ich gehöre, besteht aus freiwilligen Literaturbloggern. Folgende Romane stehen ebenfalls auf der Shortlist:
Angela Lehner: Vater unser
Martin Peichl: Wie man Dinge repariert
Katharina Mevissen – Ich kann dich hören
Ana Marwan – Der Kreis des Weberknechts
Hat mir gut gefallen https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/12/28/drei-kilometer/