Deniz Ohde: Streulicht
Sonntag, 10. Januar 2021
Rezension Debütroman
Mit ihrem Debütroman Streulicht hat Deniz Ohde bereits viel Erfolg. Das Buch stand/steht auf vielen Bestsellerlisten, auf der Shortlist des deutschen Buchpreises und ist auch bereits preisgekrönt, unter anderem mit dem »aspekte«-Literaturpreis 2020 für den besten Debütroman. Und nun steht findet sie sich auch auf der Shortlist des Bloggerpreises für das beste Debüt vom Blog Das Debüt wieder. Und dort darf ich in der Jury mitmachen.
Vorbehalte
Wenn ein Roman schon so oft besprochen und hoch gelobt wurde, denke ich manchmal, das muss ich nicht auch noch lesen. Wenn gefühlt alle in meiner Buchblase ihren Senf schon dazugegeben haben, brauche ich nicht auch noch eine Rezension dazu schreiben. Hätte ich auch nicht, wenn es halt nicht auf dieser Bloggerpreis-Shortlist gelandet wäre.
Wenn sich alle anderen schon zu Lobeshymnen aufgeschwungen haben, habe ich erstmal Vorbehalte dem Buch gegenüber. Ich will nicht mögen, was alle mögen. Irgendwie bin ich da komisch.
Seit ich weiß, dass ich es im Rahmen der Juryarbeit lesen werde, habe ich nichts mehr über das Buch gelesen, im Versuch möglichst unvoreingenommen zu sein. Schließlich will ich mir eine eigene Meinung bilden. Das ist so ein wenig wie bei den zwölf Geschworenen. Am Ende dieses Posts findet ihr weitere Links zu Rezensionen von Streulicht durch andere Jurymitglieder.
Probleme
Und tatsächlich hatte ich Probleme in das Buch hineinzukommen. Bei weitem nicht so, dass ich es weglegen wollte. Das nicht. Aber eben wegen des Erfolgs habe ich nun doch erwartet, dass ich mich dem Buch direkt hingeben könnte. Ich rätsele immer noch warum das so war. Der Stil ist sehr schön, aber es gibt auch genügend Handlung, dass es nicht langweilig wird. Doch da war eine dünne Wand zwischen mir und Streulicht. Da passt folgender Satz der Autorin sehr gut
Lag es daran, dass es eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem Ort gab, nicht identisch mit den Mauern des Industrieparks, nicht identisch mit der Schneegrenze, aber doch im Zusammenhang stehend.
Später konnte ich mich mit dem Buch, vor allem wegen des hervorragenden Stils, besser anfreunden. Doch die Wand wurde nur zum Teil durchlässig. Warum, kann ich auch nicht sagen.
Da es schon so viele Rezensionen dieses Buches gibt, werde ich mich hier nicht mit Inhaltsangaben aufhalten, sondern direkt die Punkte ansprechen, die mir wichtig sind.
Einfach nur weg
Der namenlosen Ich-Erzählerin spricht von einer unsichtbaren Wand zwischen sich und ihrem bisherigen Leben. Diese Wand ist meiner Ansicht nach der Grund, warum sie unbedingt weg möchte aus dem etwas trostlosen Frankfurter Vorort, der direkt neben einem Chempark steht.
Ihre zwei einzigen Freunde, Pikka und Sophia, können das überhaupt nicht verstehen. Für sie ist dieser Ort Heimat. Sie haben keine Identitätsprobleme. Sie wollen für immer dort bleiben.
Doch „Ich“ will einfach nur weg. Nicht unbedingt irgendwohin, sondern weg. Ich fühlte mich an das Ende des Buches Hawaii von Cihan Acar erinnert.
Identität
Die junge Frau weiß nicht wohin sie gehört. Sie weiß auch nicht so recht woher sie kommt. Vater und Großvater machen es wie ihr Schulfreund Pikka: sie bleiben immer an einem Ort, in einem Haus, es gibt keine Entwicklung. Der Suff und die Empfindlichkeiten des Vaters machen aus ihr eine kleine Maus, die nicht gehört werden möchte und am liebsten unsichtbar bleibt. Ein ziemliches Problem im Schulsystem. Für die Lehrer ist direkt klar: sie kann nix. Sie hat einen ausländischen Vornamen, da wird sie wahrscheinlich kaum Deutsch können. Sie fällt durch das Netz. Sie hat niemanden, der sie auffängt.
Die Mutter, die einen Migrationshintergrund hat, gibt ihr auch keinen Halt, keine Unterstützung. Und auch keine Identität. Ihre Muttersprache lernt sie nie, es gibt auch keinen Besuch dorthin, wo die Mutter herkommt. Dann verlässt ihre Mutter sie. Sogar zweimal. Beim zweiten endgültig, die Mutter stirbt.
Von anderen hört sie, sie soll sich „integrieren“. Wobei sie doch nie woanders war. Sie sei zu „sensibel“. Doch wie bekommt man ein dickeres Fell? Und wie soll sie aufbegehren, wenn sie doch gelernt hat sich immer zu ducken?
Niemand hilft ihr. Auch nicht die Freunde.
Anfeindung
Was sie sich alles anhören musste. Und doch war alles flüchtig, nicht greifbar, nicht beweisfähig. Jeder vermeintliche Fehler wird auf ihren Vornamen und den angeblichen Migrationshintergrund zurückgeführt. Sie wird für dumm verkauft. Selbst von den Freunden.
Als sie später ihr Abitur mit sehr guten Noten nachholt, sagt die „Freundin“ ihr, dass es nicht so viel gilt, mit diesem Bildungsweg. Da ist mir ja fast schlecht geworden.
Was sahen Pikka und Sophia in ihr? Wie konnten sie immer mit ihr abhängen, aber so auf sie herabsehen? Brauchten sie jemanden, den sie für minderwertiger hielten? War sie eine Art Sozialprojekt?
In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen.
Lauf der Zeit
Auch ich habe Abitur gemacht. In meiner Stufe waren vielleicht drei Kinder mit Migrationshintergrund. Auch die Ich-Erzählerin, ca. 20 Jahre später, war wohl in ihrer Klasse die einzige mit Abiturabsichten und ausländischen Wurzeln. Bei meiner jüngeren Tochter, die hoffentlich dieses Jahr Abi macht, waren im letzten Klassenverband 9 Nationen vertreten. Es tut sich also in dieser Richtung was. Doch braucht es auch heute immer noch ein Elternhaus, dass das Potenzial des Kindes erkennt und es auch nach Kräften unterstützt, Mut macht und einfach hinter dem Kind steht. Ebenso unterstützende Lehrer. Das alles hatte die Ich-Erzählerin nicht.
Über die Bildungsmöglichkeiten habe ich aufgrund dieses Buches länger mit meiner Familie diskutiert. Wir sind zum Schluss gekommen, dass jeder alle Möglichkeiten hat, aber Unterstützung durch ein Netzwerk (z.B. Familie) benötigt. Ohne wird das für Kinder und Jugendliche wahnsinnig schwer. Wer findet in diesem Alter schon die Kraft und den Mut sich allem zu widersetzen?
Selbstvertrauen
Was ist eigentlich das Gegenteil davon? Minderwertigkeitsgefühl? Das beschreibt die Protagonistin vielleicht am ehesten. Selbst nach dem Studium nimmt sie lieber eine Stelle als Putzfrau an, als sich adäquate Berufsaussichten zu basteln. Sie hatte das Gefühl nicht mehr zu dürfen. Nicht mehr wert zu sein. Obwohl auch Putzhilfe durchaus ein wichtiger Job ist. Doch dafür musste sie sich nicht durch Schule und Studium kämpfen.
Wenn so viele Faktoren zusammentreffen, ist es eigentlich ein Wunder, dass sie es geschafft hat. Den Weg hinaus aus ihrer Familie, aus diesem Vorort. Wieviel Kraft gehört dazu, nach einem Schulabbruch dann doch irgendwann weiter zu machen. Erst Schulabschluss in der Abendschule, dann Abitur, Studium. War die Power danach verbraucht? War keine Kraft mehr, überhaupt ein neues Ziel anzuvisieren? Wie kann sie sich immer noch nicht selbst vertrauen, wenn sie das alles schon geschafft hat?
So ganz nachvollziehen konnte ich das nicht. Doch ich bin ja auch ein ganz anderer Mensch und habe wieder andere Gebiete, in denen ich mich wertlos fühle. Doch gerade am Ende des Buches hätte ich mir mehr Aufklärung gewünscht, ausführlichere Innenansichten von „Ich“.
Fazit
Streulicht von Deniz Ohde beschreibt eine Suche nach Anerkennung. Es bietet einen Blick in viele deutsche Vorbehalte. Der Stil ist grandios. Meiner Ansicht nach wird vielen Menschen in diesem Land ein Spiegel vorgehalten. Doch ob sie das auch erkennen?
Debütpreis
Der Roman Streulicht von Deniz Ohde steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres 2020, ausgelobt vom Blog Das Debüt.
Ich darf in der Jury mitwirken.
Die anderen Bücher der Shortlist:
Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost
Schatten über den Brettern von David Misch
Hawaii von Cihan Acar
Elijas Lied von Amanda Lasker-Berlin
Wenn du Lust auf mehr Debütromane hast, empfehle ich dir in der Liste der eingereichten Debütromane zu blättern.
2019 gewann übrigens Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer.
Weitere Stimmen
So besprechen andere Jurymitglieder den Debütroman von Deniz Ohde:
Ruth Justen
Letteratura
miss_lia48
patrick1166l
Schiefgelesen
Mikka liest
Lesen macht glücklich
Sabine Gelsing
Literatur leuchtet
Ich verstehe dich total – ich möchte auch nicht mögen was alle mögen.
Das Buch steht bei mir auf der Leseliste aber ich vermeide es immer zu viel über ein Buch im Vorfeld zu wissen und lesen. Irgendwie wird es dann weniger spannend. in sofern aber ich nur kurz überflogen…
Hallo Tobia,
dann sind wir uns ja einig.
Nachdem du es gelesen hast, kannst du dir Zeit nehmen andere Meinungen dazu zu lesen.
Alles Gute
Silvia
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