David Misch: Schatten über den Brettern
Sonntag, 20. Dezember 2020
Rezension Debütroman

Der Blog das Debüt lobt auch 2020 wieder einen Bloggerpeis für das beste Debüt des Jahres aus. Auf der Shortlist steht auch dieser Roman: Schatten über den Brettern von David Misch. Der meiner Ansicht nach anspruchsvollste Roman der diesjährigen Shortlist führt uns zuerst auf eine Parkbank. Dort sitzt ein älterer, ängstlicher Herr. Er verfasst wie besessen Notizen über sein Leben. Die beschriebenen Blätter beschwert er neben sich auf der Bank mit einem Stein. Hast du ein Bild vor Augen? Ich schon. Misch schafft es immer wieder mir sehr deutliche Filme vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen.
In einem weiteren Beitrag findet ihr ein Interview mit David Misch.
Identitäten
Als erstes fällt die Perspektive des Buches auf. Es geht um „ER“. Es erzählt ein „Ich“. Und Empfänger der Erzählung ist ein „Du“. „Du“ scheint das Kind von „Ich“ zu sein. Persönlichen Kontakt haben sie nicht. „Ich“, der alte Herr auf der Bank, schreibt seine Erinnerungen auf, sein Vermächtnis an „sein liebes Kind“. Augenscheinlich eine Tochter. Hört sich verwirrend an? Ist es auch. Denn der Autor verzichtet fast zu 100% auf Namen. Selbst das Land der Handlung wird immer nur umschrieben. Aber so, dass ich es leicht erkennen kann. Später werden auch historische Personen mit kurzen Sätzen umrissen, so dass die Identität zwar nicht genannt, aber schnell klar wird. Doch das scheint eine gewollte Reaktion zu sein. Denn wie sich später herausstellt (Achtung Spoiler, aber ohne kann ich über das Buch nicht schreiben), ist der ältere Herr wohl schon etwas verwirrt. Oder auch nicht.
Schatten
In verschiedenen Kapiteln begleiten wir „Ich“ und „Er“ durch Kindheit und Jugend. Immer wieder werden Schlüsselmomente detailliert beschrieben, andere Zeiträume großzügig zusammengefasst.
Die Handlung dreht sich aber eigentlich um das „Er“. Alles dreht sich um ihn. Der junge Mann, der wirklich üble Dinge tut, wenn „der Schatten“ über ihn kommt. Der Schatten, das Böse, das sich seiner bemächtigt. Und „Ihn“ doch mit so viel Befriedigung erfüllt. Gruselig. Diese Momente sind sehr intensiv geschildert.
Dystopie
Ich konnte mir Anfangs über die Situation rund um die Parkbank noch keinen Reim machen. Ich habe die Zeiten nicht einordnen können. Wie kann sich ein alter Mann an eine Jugend erinnern, in der von Wutbürgern die Rede ist? In welcher Zeit spielt das eigentlich?
Der Ich-Erzähler und damit der Autor, gibt im Buch sogar zu nicht chronologisch zu erzählen:
Nun. Die Zeit schreitet eben nicht linear voran, sondern sie dehnt und verdichtet sich zuweilen, lässt das Leben sich in einem Schwall über uns ergießen und dabei oft Ordnung und Struktur außer Acht.
Aber ab Seite 72 verstand ich: das Buch spielt tatsächlich in der Zukunft. In einer Zukunft, die eine Mischung aus Dritten Reich und DDR zu sein scheint. Es gibt zum Beispiel keinen Geschichtsunterricht mehr, dafür umso mehr Überwachungsorgane. Wir befinden uns in einem Land, in dem „das Denken unter Strafe gestellt“ wurde.

Stil
Die Wortwahl ist auch interessant. Es gibt viele älter anmutende Worte wie flott, Wegzoll, besudelt und Ähnliches. Ob da der Österreicher mit David Misch durchgegangen ist?
Die Sätze sind sehr lang. Für mich ein wenig zu lang. Manchmal verliere ich dadurch den Faden.
Auffallend ist auch, dass „ER“ und „IHN“ manchmal in Großbuchstaben geschrieben sind. Warum? Nach meiner Erklärung vergrößert das die Distanz zu diesem Protagonisten. Das ist mir und auch dem erzählenden „Ich“ wichtig, denn ER ist ein Soziopath, der Katzen quält und einen Mitschüler in den Selbstmord treibt. Doch ER entzieht sich der Verantwortung, denn an allem hat „der Schatten“ Schuld.
Bretter
Schon der Titel lässt einen Zusammenhang zum Theater vermuten. Diese Kunstform spielt eine wichtige Rolle in diesem Roman.
Der Ich-Erzähler liebt bereits in der Jugend das Theater seht. Später versucht er sich selbst als Schauspieler. Insbesondere „Das Theater der Unterdrückten des Augusto Boals“. Eine Theatermethode, die mir völlig neu war, im Laufe des Buches aber recht gut erklärt wird.
„Ich“ steigerte sich irgendwann so in seine Rolle hinein, dass er die dargestellte Person ist. Ein Umstand, der für seine Umgebung nicht einfach zu ertragen ist. Doch auch diese Beschreibungen der Theaterarbeit sind sehr intensiv dargestellt. Eine Aufführung wird aus zwei Sichten beschrieben, was zu sehr unterschiedlichen Deutungen der Situation führt. Auch hier ist die Verwirrung meines Erachtens gewollt. Am Ende, auf den letzten Seiten des Buches wird vieles nochmal gerade gerückt.
Spoiler
Am Ende kommt eine Nebenfigur zu Wort, um für mich als Leserin nochmal alles ein wenig zusammenzufassen und einzuordnen. Das finde ich sehr gut, denn ich war mir am Ende nicht mehr sicher, ob dieser dystopische Staat im Buch tatsächlich existiert, oder nur im Kopf von „Ich“. Denn „Ich“ erweist sich als nicht ganz zuverlässiger Erzähler. Was mich nicht stört, weil das dem Buch mehrmals eine spannende Wendung gibt. Ein paarmal dachte ich: jetzt habe ich es. Jetzt kann ich Zeiten und Protagonisten einordnen. Doch dann kam wieder eine Wendung, das Bild stürzte zusammen und ich musste wie in einem Puzzle die Teile neu zusammenfügen. Vielleicht gibt es auch mehr als eine Lesart?
Fazit
Schatten über den Brettern von David Misch ist ein anspruchsvoller Debütroman. Misch verlangt dem Leser mit seiner gesellschaftskritischen Dystopie einiges ab. Belohnt wird man durch ein intelligentes Verwirrspiel mit Identitäten, Realitäten und Zeiten und einen Einblick in die Seele eines wahren Schauspielers.
Debütpreis
Der Roman Schatten über den Brettern von David Misch steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres 2020, ausgelobt vom Blog Das Debüt.
Ich darf in der Jury mitwirken.
Die anderen Bücher der Shortlist:
Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost
Hawaii von Cihan Acar
Elijas Lied von Amanda Lasker-Berlin
Streulicht von Deniz Ohde
Wenn du Lust auf mehr Debütromane hast empfehle ich dir in der Liste der eingereichten Debütromane zu blättern.
2019 gewann übrigens Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer.

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