Cihan Acar: Hawaii
Sonntag, 27. Dezember 2020
Rezension Debütroman
Hawaii, der Debütroman von Cihan Acar steht auf der Shortlist des Bloggerpreises vom Blog „Das Debüt“. Weitere Infos dazu findet ihr ganz unten im Beitrag. Ausserdem gibt es auf dem Blog noch ein Interview mit dem Autor.
Das Hawaii dieses Romans liegt nicht im pazifischen Ozean, sondern in Heilbronn. Dieser Ort hat keine Ähnlichkeiten mit dem exotischen Inselparadies. Es gilt dort als heruntergekommener sozialer Brennpunkt.
Hauptperson ist der junge Kemal. Der Roman begleitet Kemal durch ein paar Tage, in denen es in Heilbronn hoch hergeht.
Kemal
Der Ich-Erzähler steht schon mit 21 vor den Scherben seiner Karriere. Der Ex-Fußball-Profi kann nach einem Unfall meist nur noch humpeln. Er hat keinen Schulabschluss, kein Geld mehr, keinen Job. Die Freundin ist auch weg.
Für kurze Zeit lebte er seinen Traum. Er schmiss kurz vor dem Abi die Schule und nahm einen Profivertrag in der Türkei an. Ein Unfall ließ alles wie eine Blase platzen. Zurück in Heilbronn versucht Kemal wieder an die alten Liebesbande zu seiner Ex-Freundin anzuknüpfen, doch diese ist neu liiert.
Seine Eltern sorgen sich. Der Vater versucht sogar ihm einen neuen Job bei einem halbseidenen Geschäftsmann zu kaufen.
Kemals engster Vertrauter scheint sein kaputtes Auto zu sein. Er besucht ihn regelmäßig in einer bewachten Garage und führt Gespräche mit ihm. Natürlich hat Kemal auch Freunde. Doch wo gehört er wirklich hin?
So beschreibt dieser Roman nicht nur die Eskalation zwischen Ultrarechten und Türken, sondern auch eine Coming-of-Age Geschichte. Kemal muss seinen Weg finden und zwar bald, denn sein Konto ist leer. Kemal bleibt sich selbst auch immer treu und überschreitet seine selbst gesetzten Grenzen nicht.
Dadurch wirkt er manchmal sehr erwachsen, dann wieder wie ein Kind. Zum Beispiel in der Szene, in der er lange ansteht um seinem Idol, dem Heilbronner Astronauten, eine Frage stellen zu dürfen. Nur schade, dass ich diese Frage nicht erfahren habe.
Zerrissenheit
Ein schönes Symbol zeigt einen Aspekt der Zerrissenheit von Kemal. Er kauft sich ein T-Shirt, auf dem Martin Luther King und Malcolm X abgebildet sind. Eine gewisse Idee eint die beiden, aber der Weg dorthin ist total gegensätzlich. Mit einem solchen T-Shirt durch eine Stadt zu laufen, in der Gewalt gerade die Oberhand gewinnt, ist mutig. Welchen Weg wird Kemal einschlagen? Den von King? Oder den der Gewalt? Der Rest der Stadt scheint sich entschieden zu haben.
Kemal ist auch zerrissen zwischen seiner türkischen Herkunft, Deutschland und den verschiedenen sozialen Milieus in denen er sich bewegt. Wo gehört er hin? Was soll er jetzt machen?
Wie viele Menschen hier in Deutschland, die ausländische Wurzen haben, vereint auch Kemal Eigenschaften und Angewohnheiten aus beiden Ländern. Mal wollte er als Kind unbedingt mit der Türkeiflagge ins Fußballstadion gehen, andererseits will er auch nicht in der Türkei leben. Dieser Zwiespalt betrifft viele Tausend Menschen hier in Deutschland und auch anderswo. Gehört man dorthin wo die Familie irgendwann mal herkam? Oder dorthin wo man aufgewachsen ist? Welche kulturelle Identität nimmt man an? Muss man sich überhaupt entscheiden?
Kemal ist zerrissen, alle zerren an ihm. Alle wollen was von ihm. Doch was will er?
Geld
Kemal steht nicht nur zwischen Kulturen und Nationalitäten, sondern auch zwischen sozialen Milieus. Hatte er doch in der kurzen Phase als Fußball Profi schon richtig viel Geld für einen Jungen seines Alters. Dabei entstammt er einer Arbeiterfamilie, die zwar zurechtkommt, aber sicher nicht im Überfluss lebt und Prioritäten setzten muss. Der ganz krasse Gegensatz dazu ist die Familie seiner Freundin Sina. Geld wie Heu. Bauen in ihrem parkähnlichen Garten mal schnell einen Bungalow für das Töchterchen. Und Sina? Sie will einfach nur dort weg, Auf eigenen Füßen stehen. Ob sie dieser Realität überhaupt gewachsen wäre? Mit ihrem Gehalt als einfache Bankangestellte kann sie sich den gewohnten Lebensstandard, den auch ihr Freundeskreis pflegt, nicht halten.
Eskalation
In dem Buch baute sich für mich eine starke Spannung auf. Ich wusste: da kommt noch was, aber mit dem, was da kam, habe ich nicht gerechnet.
Der Roman spielt im Sommer. Es ist richtig heiß, dann scheint auch noch das Leitungswasser nicht mehr in Ordnung zu sein. Durch diese äußeren Umstände sind alle in der Stadt etwas aggressiv. Doch mit einer solchen Eskalation wie sie dann beschrieben wird, habe ich nicht gerechnet. Die beschriebene Gewalt hält sich in Grenzen. Auch hier ist Kemal fast immer eher am Rande, nicht wirklich mittendrin.
Was mir nahe ging, war die Beschreibung der zerstörten Gebiete der Stadt, überall die Spuren von Vandalismus. Wie schnell könnte es auch in Köln zu solchen Ausschreitungen kommen?
Der Stil passt sehr gut zu den beschriebenen Ereignissen und dem Ich-Erzähler. Oft kurze Sätze, die Tempo machen. Doch dann auch wieder kleine, poetisch anmutende Absätze wie dieser hier:
Es war Zeit, wieder hinabzusteigen zum Rest der Stadt, zum Dampf und Rauch, zum Lärm und Geschrei. Dorthin, wo es nach Suppe roch und wo ich hingehörte, ob ich wollte oder nicht.
Hawaii in Heilbronn
Dreh- und Angelpunkt dieses Romans ist Hawaii, ein verrufener Stadtteil in Heilbronn. Ein Paradies höchstens für Drogensüchtige und Gangs. Ca. 90 % Ausländeranteil. Ein Schmelztiegel verschiedener Nationen, was das Zusammenleben nicht unbedingt einfach macht. Einige Zeitungsartikel vergleichen die Zustände mit der Bronx oder nennen es Ghetto von Heilbronn.
Die Vorurteile auf allen Seiten sind groß. Die Eskalationen in diesem Roman sind eine realistische Fiktion. Auch ich bin in einem Stadtviertel aufgewachsen, dass heute ein sozialer Brennpunkt in Köln ist. Persönlich hatte ich dort nie ein Problem. Ich habe manchmal das Gefühl, dass einzelne Ereignisse von der Presse hochgespielt werden. Eigentlich wollen doch alle nur in Ruhe leben. Ob das in Hawaii auch so ist, kann ich von außen kaum beurteilen. Der Presse entnahm ich, dass versucht wird, die Situation zu verbessern. Wenn allerdings der Wohnraum aufgewertet wird, dann steht vielleicht auch eine Gentrifizierung bevor. Die Situation ist nicht einfach. Eskalationen sind wohl vorprogrammiert. Hoffentlich nicht so schlimm, wie es dieser Roman beschreibt.
Fazit
Hawaii von Cihan Acar beschreibt sehr eindringlich die Zerrissenheit eines jungen Mannes der sich einen neuen Weg für sein Leben suchen muss. Parallel dazu kommt es zu Gewalteskalation, die in vielen Städten Deutschlands Realität werden könnte, wenn diese Probleme nicht ernst genommen werden. Spannender Roman mit Tiefgang.
Debütpreis
Der Roman Hawaii von Cihan Acar steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres 2020, ausgelobt vom Blog Das Debüt. Ich darf in der Jury mitwirken.
Die anderen Bücher der Shortlist:
Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost
Schatten über den Brettern von David Misch
Elijas Lied von Amanda Lasker-Berlin
Streulicht von Deniz Ohde
Wenn du Lust auf mehr Debütromane hast, empfehle ich dir in der Liste der eingereichten Debütromane zu blättern.
2019 gewann übrigens Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer.
Huhu,
sehr schön, die Rezension werde ich nachher direkt bei mir verlinken! Aber pssst, Kemal ist 21, nicht 19. 😉
LG,
Mikka
Danke, ich habe mir 19 notiert. Ich korrigiere das gleich.
Viele liebe Grüße
Silvia
Ein interessantes Buch, das mich mehr als „Streulicht“ beeindruckt hat, der Genreübergriff in die Dystopie war, vor allem in Zeiten, wie diesen spannend, bin neugierig, wie es weitergeht!
https://literaturgefluester.wordpress.com/2020/12/23/hawai/
Hallo Eva,
Alle Bücher der Shortlist haben mir gut gefallen. Ich bin total ratlos, wie ich die Punkte verteilen soll.
Viele Grüße
Silvia
Geht mir ähnlich, obwohl ich mich schon entschieden habe, aber irgendetwas bleibt immer übrig, einmal war es die Juliane Kalnay https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/02/18/eine-kurze-chronik-des-allmaehlichenverschwindens/ ein anderes mal „Der letzte Huelsebeck“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/11/29/der-letzte-huelsenbeck/, mein Rat also auch die anderen Bücher lesen und da gibt es noch einige auf der Longlist, die mich interessieren!
https://literaturgefluester.wordpress.com/2020/12/01/debuts-debuts-und-neue-shortlist/, liebe Grüße!
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