Ulla Coulin-Riegger: Mutters Puppenspiel
Sonntag, 13. September 2020
Eine selbständige Frau in totaler Abhängigkeit
Lisette ist Ende 30, Ärztin mit eigener Praxis. Sie steht mitten im Leben, wirkt sicher und selbständig. Wie kann es also dazu kommen, dass sie sich emotional total abhängig von anderen macht? Da ist zum einen das schräge Verhältnis zu ihrer selbstsüchtigen Mutter und dann die Beziehung zu Emil, einem verheirateten Mann, der keine Anstalten macht für klare Verhältnisse zu sorgen. Auch ihre Freundin Angelika ist nur zur Stelle, wenn es darum geht Party zu machen und Spaß zu haben.
Die Mutter
Wie Lisette als Ich-Erzählerin die Nachmittage bei ihrer Mutter, deren Gespräche und ihre Gefühle beschreibt, hat mich verstört. Eine erwachsene Frau, die im Leben durchaus viel erreicht hat, lässt sich von der Mutter gängeln und fürchtet bei allem was sie tut, deren Kritik.
Neben ihr blieb ich klein
Die Mutter macht und hält Lisette klein. Obwohl eigentlich total unabhängig begibt sich Lisette aus Pflichtgefühl in diese starke emotionale Abhängigkeit.
Also muss ich mich noch kleiner machen, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie mir auf allen, aber wirklich auf allen Gebieten das Wasser reichen kann.
Und Lisette macht sich klein, nahezu winzig, wenn sie auch nur an ihre Mutter denkt. Obwohl sie das Spiel der Mutter durchschaut und total darunter leidet, spielt sie mit, bleibt die Marionette der Mutter, knüpft sich selbst die Fäden jedes Wochenende an. Gruselig und trotzdem so beschrieben, dass ich es nachvollziehen konnte.
Und das ist nicht die einzige Beziehung, in der sich Lisette die Regeln aufdrängen lässt.
Der Liebhaber
Lisette hat seit einiger Zeit ein Verhältnis mit Emil. Dieser ist seit 25 Jahren verheiratet, angeblich unglücklich in seiner Ehe. Trotzdem begeht er seine Silberhochzeit mit einem Urlaub, gemeinsam mit seiner Frau. Die Zeit mit Lisette sind gestohlene Momente, immer nur schnell mal zwischendurch, kurze, flüsternde Telefonate oder auch mal Kommunikation per Brief. Lisette stellt keine Forderungen, macht nicht auf die Verletzungen die sich dadurch ständig erfährt, aufmerksam. Auch in dieser Beziehung spielt sie ganz nach den vom anderen aufgestellten Regeln.
Meinwärts
Dieses mir bisher unbekannte Wort ist dem Buch solo vorangestellt. Ich interpretiere es als „zu sich selbst finden“. Nach meiner Recherche entstammt es einem Gedicht von Else Lasker-Schüler:
Weltflucht
Gedicht von Else Lasker-Schüler
Ich will in das Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose
Meiner Seele,
Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!
O, ich sterbe unter Euch!
Da Ihr mich erstickt mit Euch.
Fäden möchte ich um mich ziehn –
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch verwirrend,
Um zu entfliehn
Meinwärts!
Auch Lisette wird erstickt unter den Anforderungen der Menschen, die ihr am wichtigsten sind. Das Buch handelt davon, wie ihr das bewusst wird und der Frage, ob und wie sie daraus lernt. Um eine Veränderung herbeizuführen, bedarf es in Lisettes Leben eines schrecklichen Ereignisses. Es kann sie völlig zerstören oder zu einem Aufbruch führen.
Bei aller Dramatik bleibt Lisette fast passiv, trifft nur selten mal eine Entscheidung und ergreift kaum mal selbst die Initiative. Oder habe ich mich als Leserin in der Ich-Erzählerin getäuscht? Denn im vorletzten Absatz stellt eine Freundin eine Frage an Lisette, die nicht direkt beantwortet wird, mich aber direkt nochmal das Buch durchblättern lässt, um die Antwort zu finden. Bin ich als Leserin vielleicht auch Opfer eines Puppenspiels von Lisette geworden?
Die Autorin
Die meisten Debütautor*innen sind recht jung, gerade mit dem Studium fertig. Viele haben auch bereits während der Ausbildung auf ihren ersten Roman hin gearbeitet. Andere beginnen in der Mitte des Lebens zu schreiben. Sie erfüllen sich damit oft den lang gehegten Traum, ein Buch zu veröffentlichen. Ulla Coulin-RIegger ist in einer noch späteren Lebensphase. Die Psychotherapeutin war schon 69 Jahre alt, als ihr Debütroman Mutters Puppenspiel im unabhängigen Verlag Klöpfer,narr erscheint. Aus ihrer langjährigen Berufserfahrung hat sie sicher noch genügend Ideen für viele weitere Bücher. In diesem Beruf lässt es sich sicher tief in die Seelen der Menschen blicken, wunderbarer Stoff für gute Romane. So ist auch hier in diesem Roman eine Nebenrolle mit einer Psychologin besetzt. Diese tritt allerdings nicht in dieser Rolle, sondern als Freundin auf.
Fazit
Mutters Puppenspiel von Ulla Coulin-Riegger ist ein vielschichtiger Roman, der viel mehr Interpretationsspielraum bietet, als ich während des Lesens gesehen habe. Durch eine kleine Frage am Ende des Buches bekommt alles nochmal einen spannenden Twist. Wie gerne würde ich auch dieses Buch mit anderen diskutieren!
Pingback: ULLA COULIN-RIEGGER: Mutters Puppenspiel, Klöpfer, Narr Verlag | Birgit Böllinger