[Rezension] Dörte Hansen: Mittagsstunde
Sonntag, 4. November 2018
Ein Dorf im Wandel der Zeit
„Altes Land“, der erste Roman von Dörte Hansen spielt in Hamburg und dem Alten Land. Im neuen Roman, der nun endlich erschienen ist, geht es noch weiter nach Norden. In den nördlichsten Zipfel unseres Landes. Nach Nordfriesland. In das kleine Dorf Brinkebüll. Ein kleines fiktives Fleckchen, dass wie viele Dörfer in dieser Gegend ein „büll“ am Ende hat.
Dort leben Menschen seit Jahren mehr oder weniger friedlich beisammen. Eigentlich ein beschauliches Stückchen Erde. Die Autorin gewährt uns tiefe Einblicke ins Dorfleben.
Sönke Feddersen betreibt mit seiner Frau Ella eine Gastwirtschaft. Mit 90 Jahren klappt das nicht mehr so gut, aber das versucht der promovierte Enkel Ingwer aufzufangen. Ella ist an Demenz erkrankt und kann nur mit den Händen noch im Haushalt helfen. Sönkes einziges verbleibendes Ziel im Leben ist die Diamantene Hochzeit, darauf freut er sich.
Lehrer Steensen ist der einzige Lehrer im Ort und unterrichtet in einem Klassenraum alle Jahrgänge von 1 bis 9. Die Eltern der heutigen Kinder sind auch bereits von ihm unterrichtet worden. Es geht nicht immer harmonisch zu, aber Klagen sind nicht erwünscht. Da muss man durch als Brinkebüller Kind. Das war zu einer Zeit, als es im Dorf noch eine Ausnahme war, Abitur zu machen.
Echte Dummheit ließ sich nicht kurieren. Bei der trägen Dummheit war es anders, da konnte man als Lehrer etwas tun, da hieß es kämpfen und dem Schüler Beine machen.
Viele Familien lernt der Leser nach und nach kennen.
Es wird viel geredet in einem kleinen Dorf. Jeder hat einen Spitznamen, den aber nur die anderen wissen. Viele Kinder kommen zu früh nach der Hochzeit auf die Welt, die Brinkebüller Männer sehen es gelassen. Im Gasthaus bemüht man sich, die Kuckuckskinder nicht zu nah an die Tische der Blutsverwandten zu setzen. Der Friede soll bewahrt bleiben im Dorf.
Dörte Hansen zeichnet ein düsteres Bild von diesem beschaulichen Dorf in Nordfriesland. Als Leser bin ich froh, im weit entfernten Hamburg zu wohnen. Mit dem Auto durch diese fantastische Landschaft zu fahren ist immer wieder ein Erlebnis, das Wohnen dort anscheinend nicht. Neu zugezogene haben es schwer. Sie werden eingeteilt in „grüsst“ oder „grüsst nicht“.
Das Dorf im Wandel der Zeit
Sogar die guten alten Zeiten waren in Brinkebüll nicht nur gut, die Veränderungen nicht nur schlecht. Man musste sich anpassen, aufgeschlossen für neues sein und nicht in der Vergangenheit leben. Aber traurig ist es dann doch, dass die Dörfer zu Schlafstätten der Großstädter werden und das Dorfleben untergeht.
Erinnerungen
Bei mir kommen viele Erinnerungen hoch. Zwar bin ich nicht in einem kleinen Dorf aufgewachsen, aber in unserem Stadtteil einer mittelgroßen Stadt erging es mir ähnlich. Die ersten beiden Grundschulklassen gab es noch in Fußnähe, ab der dritten Klasse mußte ich mit dem Bus zur Schule fahren. Der kleine Kaufmannsladen machte irgendwann zu, weil er nicht mehr von den „Resteinkäufen“ leben konnte. Genauso die Post und der Schlachter. Plötzlich fuhr man mit dem Auto zum Einkaufen. Es gab nichts mehr in unmittelbarer Nähe. Heute werden auch in meiner ehemaligen Straße die Vorgärten gepflastert, um die vielen Autos unterzubringen und um die Arbeit zu reduzieren. Da kann man schon ein wenig wehmütig werden! Ach ja! Ich bin nur zwei Jahre jünger als die Autorin.
Warum „Mittagsstunde“?
Im Dorf ist die Hektik unserer Zeit noch nicht angekommen. Es gibt noch die berühmte Mittagsstunde, in der sich alle nach dem Essen etwas ausruhen und das Leben stillsteht. Kinder müssen leise sein, Besuche finden zu dieser Zeit nicht statt.
Die Autorin hat sichtlich Spaß daran, über ihre Mitmenschen zu schreiben. Waren es in „Altes Land“ die etwas abgehobenen Ottenser und die Stadtmenschen im Alten Land, so hat sie dieses Mal die Dorfbewohner in Nordfriesland am Wickel. Manchmal wünschte ich mir eine etwas romantischere Beschreibung, weniger satirisch.
Hansen hat eine ganz besondere Sprache. Seitenlang kann sie in wunderschönen Sätzen von diesem etwas deprimierenden Dorf und seinen Bewohnern erzählen. Immer wieder gespickt mit Plattdeutschen Ausdrücken. Manchmal ist es mir ein wenig zu langatmig. Ein Grund für mich, dieses Buch nicht in einem Rutsch lesen zu können.
Der neue Roman der Bestsellerautorin gefällt mir sehr. Ob er aber an den Erfolg von „Altes Land“ anknüpfen kann? Ich bin sehr gespannt!
Kekse in Brinkebüll
Ich hätte sogar einen Beitrag „Keks zum Buch“ machen können. Aber leider sind die klassischen Kekse aus dem Dorf nicht sehr wohlschmeckend. 😉
Andere Menschen aßen Spekulatius und Lebkuchen, die Brinkebüller brachen sich die Zähne lieber ab an ihrem Kintjentüüch, das wie ein alter Bimsstein schmeckte.
Fazit
„Mittagsstunde“ von Dörte Hansen ist ein sehr lesenswertes Buch über das kleine Dorf Brinkebüll und ihre Bewohner. Norddeutsche wie man sie sich vorstellt. Sind die Beschreibungen am Anfang häufig sehr deprimierend, so ändert sich die Stimmung zum Ende hin etwas. Mir wird das Buch lange in Erinnerung bleiben. Genauso wie „Altes Land“.
Hallo,
Vielen Dank für Deine Rezension. Ich bin gerade mitten in der Lektüre von „ Mittagsstunde“. Wie viele war ich völlig begeistert von „Altes Land“ und auch mit ihrem zweiten Buch enttäuscht mich Dörte Hansen nicht. Sie beschreibt mit sehr viel Liebe ihre schrulligen Figuren, lässt ihnen ihre Fehler und Eigenheiten, ohne sie bloßzustellen. Das gefällt mir sehr gut. Dazu kommt ihre ganz eigene Art zu schreiben. Mir ist es nicht zu langatmig, im Gegenteil. Ich lasse mich tragen von ihren Schilderungen über Landschaft, Stimmungen und den Menschen Ein wunderbarer Roman !
Schön, dass dir das Buch auch gefällt. Mir ist es nur am Anfang zu langatmig und etwas zu trist! Wobei ich mich immer wieder frage, wie sehr sich die eigene momentane Stimmung auf ein Buch auswirkt. Ob es darüber Studien gibt?
Liebe Astrid,
Ich war ja absolut begeistert von „Altes Land“. Deswegen habe ich mich bisher irgendwie noch nicht an das neue Buch herangetraut, weil ich Angst habe, dass ich dann enttäuscht bin. Zwangsläufig, weil das erste Buch eben so gut war, dass es schwer ist, da mitzuhalten.
Aber natürlich bin ich auch sehr neugierig. Und mit deiner Rezension hast du meine Neugier noch angefacht, meine Befürchtungen aber auch ein bisschen, weil du ja anscheinend nicht restlos begeistert warst.
Hach, schwierig. Aber früher oder später (wahrscheinlich eher früher) werde ich es bestimmt doch lesen. Weil ich ihren Schreibstil auch so mag.
Liebe Grüße, Julia
Liebe Julia,
doch, ich bin restlos begeistert! Es war nur nicht von Anfang an. Mir fiel es ein wenig schwer, über dieses triste Dorfleben zu lesen. Es hat mich ein wenig runtergezogen. Ich hatte zwischenzeitlich sogar den Gedanken, dass es nicht gut war, das Buch zu dieser Jahreszeit zu veröffentlichen. Andererseits passt der Novembernebel vielleicht auch ganz gut!
Viele Grüße
Astrid
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Was genau ist Kintjentüüch, und aus was bestehen die Plätzchen? Hat evtl. Jemand das Rezept?
Annette
Hallo Annette,
ich habe keine Ahnung! Vorher nie von diesen Keksen gehört. Und ehrlich gesagt auch nicht den Drang gehabt, sie zu backen.
Viele Grüße Astrid
Kintjentuech backe ich hier jedes Jahr in Kanada…komme aus Doerpum in NF
200ml Wasser mit 375gr zucker kochen und ueber nacht stehenlassen. 100 gr margarine, 750gr Mehl, 7,5 gr Hirschornsalz…wenn es zu klebrig ist mehr Mehl zugeben. 2-3 cm gross ausstechen und backen auf mittlerer Hitze ….ivh gebe etwas vanille und geriebene zitronenschzle in den Teig damit er grschmack hat…Kintjentuech wurde frueher in den Tannenbaum gehangen und so genascht….
Liebe Susanne,
vielen Dank für das Rezept.
Beim Lesen des Buches bekommt man ja nicht unbedingt Lust, die Kintjentuech nachzubacken. Wie würdest du denn ihre Konsistenz beschreiben? Ist die Beschreibung dieser Kekse im Roman vielleicht nicht ganz wahrheitsgetreu?
Viele Grüße
Astrid
liebe Susanne,
ich bin von dem Buch so begeistert und freue mich, dass ich nun die Plätzchen nachbacken kann.
Vielen Dank und eine schöne Adventszeit.
Annette
Sono una lettrice italiana. Ho letto questo libro naturalmente in tedesco e l’ho molto apprezzato.
La vita di paese è uguale in tutto il mondo.
Ho ritrovato in questo romanzo i racconti di mia madre che veniva da un piccolo paese toscano.
un saluto a tutti
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