Mr. Gwyn
Donnerstag, 9. Juni 2016
Sprachbilder
Könnt ihr euch vorstellen für ein Porträt Model zu sitzen? Früher, vor den Fotoapparaten, war das bei reichen Leuten üblich. Auch in der Literatur spielen Porträts manchmal eine Rolle. Zum Beispiel „Das Bildnis des Dorian Gray“, oder „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“.
Könnt ihr euch vorstellen, wie ein geschriebenes Porträt aussieht? Nicht so wirklich? In diesem Buch versucht ein Autor genau das. Er schreibt Porträts.
Der Inhalt
Jasper Gwyn ist ein recht erfolgreicher Autor. Doch eines Tages beschließt er 52 Dinge nicht mehr zu tun. Damit er ernst genommen wird, veröffentlicht er diese Liste im Guardian. An letzter Stelle dieser Liste stand: Bücher schreiben.
Alle Welt hält das für einen PR-Gag. So ziemlich jeder Schriftsteller oder Künstler verkündet einmal, dass er aufhört, die meisten kommen aber wieder zurück. Doch Mr. Gwyn meint es ernst.
Einer Begründung kommt vielleicht folgender Satz am nächsten:
Eines Tages habe ich erkannt, dass mir nichts mehr wichtig ist und dass mich alles tödlich beleidigte.
Er verbringt seine Zeit damit zu überlegen was er gerne machen möchte. Er beschließt Kopist zu werden. Was das genau bedeutet weiß er selbst nicht.
Doch irgendwann kommt er auf die Idee Porträts zu schreiben. Er denkt darüber nach, welche Voraussetzungen es dafür zu erfüllen gilt, wie er die zu Porträtierenden gut genug kennen lernen kann, um sie treffend aufs Papier bringen zu können.
Die Protagonisten
Dazu lässt Jasper sich jede Menge einfallen. Und nimmt die Hilfe von einigen Menschen zur Hilfe. Da ist sein bester Freund und Agent Tom, der im Rollstuhl sitzt und sehnlichst hofft, das Gwyn wieder „zur Vernunft“ kommt. Dessen Mitarbeiterin Rebecca, die zu seinem ersten Modell werden soll. Eine alte Dame, die ihm auch tot noch zur Seite steht und der Meinung ist:
Sterben ist nur eine besonders exakte Form des Alterns.
Ein Makler, der sich auch über die seltsamsten Wünsche nicht wundert. Ein Glühbirnenmacher, der seine Arbeit über alles liebt und ein Meister seines Fachs ist. Und ein Komponist, der 62 Stunden Klänge für das Atelier in Szene setzt.
Gwyn ist ein ziemlicher Sonderling, ein typisch spleeniger Brite, der gerne eine Art Reiseführer über Waschsalons verfassen würde.
Was ist ein Porträt von Mr. Gwyn?
Und Gwyn verfasst literarische Porträts. Sie sind keine Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbildes und auch keine Aufzählung charakterlicher Eigenschaften. Diese Porträts sind etwas ganz Eigenes. Die erstellten „Bilder“ werden im Buch auch nicht abgedruckt. Sie bleiben immer eine Sache zwischen Gwyn und dem Model.
Alles läuft super, bis sich eines Tages eine junge Frau nicht an die Regeln hält. Inhaltlich will ich nicht mehr verraten…
Buch im Buch
Und dann gibt es noch das Buch im Buch. „Dreimal im Morgengrauen“. In Italien, im Original, wurde es separat herausgegeben, hier hat sich der Verlag entschieden es mit einzubinden. Und diese drei Geschichten enthalten ein Porträt. Das kurze Vorwort möchte ich hier mal vollständig zitieren:
Dieses Buch erzählt eine wahrscheinliche Geschichte, die jedoch in der Wirklichkeit niemals geschehen könnte. Es erzählt nämlich von drei Menschen, die sich dreimal begegnen, doch jedes Mal ist es das einzige, der erste und das letzte Mal. Für sie ist das möglich, weil sie in einer anormalen Zeit leben, die man vergeblich in der alltäglichen Erfahrung suchen würde. Diese Zeit inszenieren Erzählungen, manchmal, und das ist eines ihrer Privilegien.
Über dieses Buch im Buch könnte man schon eine eigene Rezension schreiben. Hier erkenne ich auch den mir bekannten Stil (z.B. aus Seide) des Autors wieder. Drei Episoden mit den gleichen Hauptfiguren in einem irrationalen Spiel mit Zeit, Gelegenheiten und Unmöglichkeiten.
Fazit
Das Buch selbst hat mich total gepackt. Der Stil ist leicht und tief zugleich. Der Inhalt ist unterhaltsam, rätselhaft und manchmal überraschend. Es ist ein Spiel mit Identitäten.
Am Ende des Buches hatte ich immer noch keine Ahnung wie so ein Porträt aussieht. Doch die angehängten drei miteinander verwobenen Erzählungen aus „Dreimal im Morgengrauen“ haben mir Möglichkeiten des Verstehens gezeigt. Auch wenn sich das eigentliche Buch eher als Unterhaltungslektüre lesen lässt, ist dieser Teil voller Bilder, Metaphern und Gleichnissen auch als Lesekreismaterial sehr zu empfehlen.
Das ist nicht mein erstes Buch dieses Autors und hoffentlich nicht das letzte, das ich lesen werde.
Mr. Gwyn
ein Roman von Alessandro Baricco
Andere Meinungen zu diesem Buch:
Anja von Zwiebelchens Plauderecke
Angelika von Angelika liest: auf ihre Empfehlung habe ich das Buch gekauft!
Für mich zur Zeit das beste Buch, was ich bisher in 2016 gelesen habe. Freut mich, dass es Dir gefallen hat 🙂
Danke für diese Empfehlung, liebe Angelika.