Schnell, dein Leben
Mittwoch, 11. Januar 2017
Das Leben ist schnell vorbei
Die Autorin Sylvie Schenk hat ihr eigenes Leben in ein Buch gepackt. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Jugend und dem jungen Erwachsenendasein. Im Buch nennt sie sich allerdings Louise.
Louise lernt im Studium einen jungen Deutschen, Johann, kennen. Doch kann kurz nach dem zweiten Weltkrieg eine Beziehung zwischen einer Französin und einem Deutschen funktionieren?
Ganz Europa ist mit der Bewältigung der Erinnerungen beschäftigt. Können die beiden jungen Menschen die Vorbehalte ihrer Familien und Freunde überwinden?
Das Buch hat nur knapp 160 Seiten, Sylvie Schenk ist über 70. Sie beschränkt sich also in ihrer Lebensbeschreibung sehr auf wichtige Szenen, die ihr Leben am meisten geprägt haben.
Perspektive
Sehr aussergwöhnlich ist die Perspektive in der das Buch geschrieben wurde. Es ist nicht, wie es sich angeboten hätte in der ersten Person, der Ich-Form, geschrieben, sondern in der zweiten Person Singular. So steht in fast jedem Satz das Wort „du“. Ich wurde dadurch ständig persönlich angesprochen und konnte mich in Louise hineinfallen lassen. Durch diese Form habe ich Luise miterlebt. Das war schon ein sehr intensives Leseerlebnis.
Die Autorin
Sylvie Schenk wurde 1944 geboren, wuchs in Frankreich auf und lebt seit 1966 bereits in Deutschland. Ihr deutsches Domizil ist in Aachen. Besonders finde ich, dass sie auf Deutsch schreibt und nicht in ihrer Muttersprache.
Ich konnte Sylvie Schenk schon zweimal persönlich sprechen. Auf der FBM16 , am Stand des Hanser-Verlags hat mich die charmante, quirlige Frau sehr in ihren Bann gezogen. Nicht zuletzt durch ihren immer noch hörbaren französischen Akzent. Deshalb habe ich mir auch eine Karte für ihre Lesung im Literaturhaus Köln besorgt.
Die Lesung
Es war die intensivste Lesung, die ich in 2016 besucht habe. Sylvie Schenk verzichtet auf einen Moderator. Stattdessen hat sie einen befreundeten Musiker dabei. Heribert Leuchter ist Musikproduzent, Komponist und spielt Saxophon. Passend zum Buch komponierte er einige Stücke und trägt sie bei den Lesungen im Dialog mit Lesepassagen durch die Autorin vor. Sie lesen und musizieren abwechselnd, in manchen Passagen verschmilzt die Musik auch direkt mit dem Text. Ich kann euch nur empfehlen: besucht eine solche Lesung. Es ist wirklich etwas ganz Besonderes!
Die Autorin beschreibt es im Buch selbst. Das Zitat stammt aus einer Szene, in der Louise zum ersten Mal Jazz hört
Das Gespielte lässt Bilder auf dich zuströmen, unerwartete Bilder.
Genauso ging es mir bei der Lesung.
Antworten
Nach der Lesung konnten noch Fragen gestellt werden. Sylvie Schenk erzählte, dass sie das Buch erst in der ersten Person begonnen hatte. Aber das war zu nahe an ihr selbst dran. Sie konnte das so einfach nicht schreiben. In der dritten Person war es ihr zu unpersönlich. So kam sie auf die Idee, die zweite Person, die Du-Form, zu benutzen.
Außerdem mag sie es gar nicht, auf die nette Französin mit dem charmanten Akzent reduziert zu werden. Man machte es ihr anfangs nicht leicht in Deutschland Deutsch zu lernen (was im Buch gut beschrieben wird). Sie lernte Deutsch über die Literatur und schreibt deshalb auch in dieser Sprache.
Sylvie Schenk machte auch deutlich wie wichtig ihr dieses Buch war. Die Autorin weiss, dass ihr Leben nicht ewig währt und hatte das Gefühl dieses Buch unbedingt schreiben zu müssen um ihre eigene Vergangenheit gut verarbeiten zu können und mit einigen Erinnerungen auch endlich abschliessen zu können.
Zitate
Ich habe viele Sätze im Buch markiert. Zwei möchte ich hier zitieren. Die erste Stelle, weil es um Lesen geht, die zweite, weil sie auch zur aktuellen Flüchtlingssituation (und der fehlenden Integration) passt.
Louise war als Kind krank, musste lange das Bett hüten und entdeckte das Lesen:
Liegen ist bei weitem die beste Körperlage zum Lesen, so wirst du es dein Leben lang beibehalten. Lesen und liegen gehören zusammen.
Über ihr zu erwartendes Leben als Französin in Deutschland schreibt sie folgendes:
Ein Ausländer ist ein Außenseiter. Du hast dich immer so gefühlt: als nicht dazugehörend. … Ein Fuß drinnen, ein Fuß draußen, dazugehören, aber doch anders sein.
Lieblingsszene
Louise arbeitet in Deutschland als Lehrerin. Einmal kommt sie in die Klasse der Mädchenschule und viele Mädchen weinen. Sie haben in der Stunde vorher den Film „Nacht und Nebel“ gesehen und wurden zum ersten Mal mit der Schuld ihrer Eltern konfrontiert.
Fazit
Ein Buch, dass mich viel über das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich gelehrt hat. Ich betrachte es als weibliches Gegenstück zu „Ein ganzes Leben“. Die Perspektive und die Reduktion hat mir ein intensives Leseerlebnis beschert.
Andere Meinungen zum Buch
Buchinfos
Sylvie Schenk
Schnell dein Leben
Hanser Verlag
160 Seiten
16,00 € [D] als Hardcover-Ausgabe
978-3-446-25331-5
Danke für diesen Beitrag,
ich habe den Namen schon mal gehört und bin jetzt richtig neugierig. Meine Tante wohnt in Frankreich und den Aspekt, dass sie irgendwie auch nach Jahrzehnten nicht 100%ig dazu gehört, kenne ich von ihr.
LG
Eva
Das ist interessant.
Eine Freundin von mir, Französin, lebt seit 30 Jahren in Deutschland, fühlt sich ganz angekommen und möchte nicht zurück.
Grüße
Silvia
Ein sehr schöner Beitrag, der mein Interesse geweckt hat! Ich werde mich mal umschauen, ob Frau Schenk auch irgendwo bei mir in der Nähe eine Lesung hält.
LG monerl
Hallo Monerl,
Diese Lesung hat bei mir viel Gänsehaut erzeugt.
Grüße
Silvia
Wow, wie schafft man es, 70 Jahre Leben in 160 Seiten zu quetschen? Das klingt tatsächlich sehr gedrängt bzw. nach einer strengen Auswahl wichtiger Lebensabschnitte.
LG Gabi
Hallo Gabi,
das hat die AUtorin meiner Meinung nach sehr gut gelöst, weil sie sich nur auf einige, ihr wichtige, Aspekte beschränkt hat.
Grüße
Silvia
Hallo Silvia,
ein toller Beitrag zu einem interessanten Buch! Allein schon die besondere Form bzw. Perspektive, in der das Buch geschrieben ist, macht mich neugierig, aber auch thematisch finde ich es sehr ansprechend.
Liebe Grüße
Anka
Hallo Anka,
ich bin sehr froh es entdeckt und gelesen zu haben.
Grüße
Silvia
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