Selbstporträt mit Flusspferd
Donnerstag, 2. April 2015
Sommer 2004 in Wien.
Julian, 22 Jahre alt, studiert Veterinärmedizin.
Seine Freundin Judith trennt sich von ihm. Sie waren zwei Jahre zusammen. Julian ist am Boden zerstört. Vor ihm liegt ein langer, einsamer Sommer mit Geldsorgen.
Da bietet sich ihm ein Aushilfsjob an: ein Zwergflusspferd wurde aushilfsweise im Garten eines Professors untergebracht und braucht einen Pfleger.
Dort lernt er den totkranken Professor Behan und seine interessante Tochter Aiko kennen.
Behan sitzt im Rollstuhl und wartet auf den Tod. Aber er wehrt sich auch dagegen:
„Professor Beham ließ sich jetzt auch am Nachmittag beweisen, dass er noch lebte: indem er der Zeitnehmung und dem Zählen von Ringen beiwohnte.“ (olympische Sommerspiele 2004 in Athen.)
Zur Betäubung trinkt er Wein und lässt sich von seiner Tochter auf Französisch (das Behan angeblich nicht versteht) beschimpfen. Das führt immer wieder zu recht skurrilen Situationen.
Überhaupt ist der ganze Roman recht humorvoll gehalten. Trotz der eigentlich traurigen Grundstimmung, in der alles auf Abschied gestellt ist.
Julian versucht über die Trennung von Judith hinweg zu kommen, sich mit dem Flusspferd anzufreunden und irgendwie wieder ins Leben zurück zu finden.
Das Zwergflusspferd liegt hingestreckt, träge im seichten Wasser, es verstrahlt die völlige Unwichtigkeit, die auch Aiko und ich dem Vergehen der Zeit gerne beimessen würden.
Das Flusspferd bringt immer wieder Ruhe in die Handlung und in Julians Gemüt.
Mit seinen behäbigen Bewegungen, lange Schlafzeiten und der ruhige Wechsel von Land zu Wasser und zurück bringt das Zwergflusspferd Julian mit Ruhe zu sich selbst. Es wird nur irre, bei plötzlichen Geräuschen, wie z.B. das startende Motorrad des Nachbarn. Dann wird die „Zwergin“, wie Julian das Tier nennt, plötzlich zur gehetzten Furie.
Ein weiterer Gegenpool ist Julians neue Mitbewohnerin Nicki, die irgendwie auch wie ein Flusspferd lebt.
Wenn Julian nicht mehr weiter weiß, dann geht er zum Karatetraining, eine Beschäftigung, die ihn immer wieder auf den Boden zurückholt.
Dann wird auch oft ein wenig philosophiert:
Die Leere, das ist der Weg, und der Weg, das ist die Leere. Es gibt Weisheit, Verstand und den Weg, und es gibt die Leere.
Oder auch über profanere Dinge nachgedacht: „Ich glaube, dass man am Hintern erkennen kann, wie jemand ist. … Aber später ist ein Hintern oft typisch, und ich versuche daraus Rückschlüsse über die Persönlichkeit zu ziehen.“
Eine Lieblingsstelle von mir aus dem Buch ist folgende: „Ich nahm zwei Rosskastanien auf, ich mochte es die Rosskastanien zu berühren, es hatte etwas Beruhigendes, mit zwei Rosskastanien in der Hosentasche zu spielen.“ Das sind zwar keine besonderen Sätze, aber ich finde mich darin total wieder, außer, dass ich die Kastanien in der Jackentasche mit mir herumtrage. Den gesamten Herbst und Winter über, in jeder Jacke.
Vor den Problemen der Welt, die immer wieder eingestreut werden (sehr intensiv zum Beispiel die Geiselnahme in der Schule von Baslan), wirken Julians unreife Probleme wie Bagatellen und rücken sein Leid wieder ins rechte Licht. „Kann das wirklich und wahrhaftig passiert sein? Wie furchtbar ist die Welt.“
Es gibt auch schöne Momente in diesem Sommer für Julian. „Verliebtheit: das ist schwer zu erzählen.“
Es handelt sich um ein „Selbstporträt“. Es geht also nur um Julian, seine Sicht, seine Gefühle und Gedanken. Die Sichtweisen der anderen werden nicht beleuchtet. Dadurch wirkt Julian oft egoistisch und wenig einfühlsam und vor allem von Selbstmitleid durchzogen. Doch auch diese Stadien sind wichtige Entwicklungsschritte in diesem Sommer, in dem Julian endlich erwachsen wird.
Das Buch ist sehr kurzweilig, oft heiter aber auch von vielen melancholischen Sätzen durchzogen. Es bringt den Sommer aufs Lesesofa und auch viele Erinnerungen an 2004 und die eigenen Jugend zurück.
Die Lesung des Autors bei der LitCologne 2015 in Köln habe ich aus gesundheitlichen Gründen leider verpasst. Das Bild habe ich in Leipzig auf der Messe gemacht.
Zum Abschluss noch zwei einfache, aber einfach schöne Sätze:
„Die Woche hinkte vorüber.“ und „Ich beobachtete sie auf Vorrat“.
Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-24761-1, 288 Seiten, 19,90 € als Hardcover
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Oh, das hört sie ja super an. Ich habe noch so viel zu lesen, aber das kommt jetzt auch noch auf meine Liste
Liebe Grüße aus Berlin
Andrea
Ich hoffe es gefällt Dir so gut wie mir!