Was das Meer ihnen vorschlug
Dienstag, 22. März 2016
Der alte Mistkerl und das Meer
Mario und Javier sind Zwillinge, eigentlich schon erwachsen und wohnen doch noch auf der kleinen Hotelanlage der Eltern. Sie würden zu gerne ihrem jähzornigem Vater entkommen, wollen aber ihre Mutter nicht zurücklassen. Denn Nora ist schizophren und dadurch total unselbständig.
Da bestimmt der Vater, trotz eines drohenden Sturms, eine Fahrt aufs Meer, zum Fischen. Denn sie angeln sich die Fische für das Restaurant gerne selbst. Drei Männer auf dem Meer, ein Sturm und eine (verrückte) Frau zu Hause. Das sind gute Ingredienzen für ein Drama.
Vieles erinnert an Hemingway. So bemerkt Javier wohl auch nicht zufällig:
Der alte Mistkerl und das Meer.
Was das Buch von Hemingways Klassiker stark unterscheidet ist der interessante Aufbau: Gonzáles wechselt dauernd die Perspektive. So kommen die drei Männer selbst zu Wort, die Mutter mit den vielfältigen Stimmen im Kopf, Hotelgäste. Zum Teil in der dritten Person, zum Teil in der ersten Person geschrieben. Das erfordert vom Leser schon ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit.
Die Timeline wird durch Ankündigungen der Uhrzeit im Kapiteltitel allerdings immer offensichtlich gehalten.
Die beiden Brüder, obgleich Zwillinge, sind sehr unterschiedlich im Temperament und ihren Plänen. Trotzdem verstehen sie sich ohne Worte und ahnen die Handlungen des Bruders meist voraus. Die Männer, die gegen die Urgewalten des Meeres kämpfen und im Gegensatz dazu die ganz aus der Realität geworfene Mutter an Land. Sie lebt in ihrem unterkühlten Apartment und feiert Partys mit den Stimmen im Kopf. Allerdings haben ihre Äußerungen, oder die der Stimmen, auf schon mal Orakel-Charakter, so dass klar wird, dass sie ein wenig von der Realität noch mitbekommt:
Unwetter, das den Kompass kreuzt. Sextant, der den Horizont nicht sieht.
Da gibt es Touristen, die sich dort am Meer, am Strand sehr wohl fühlen, aber auch sehen:
Arm sind die dran, die immer hierbleiben müssen, verdammt und festgekettet an dieses Meer.
So geht es auch Mario und Javier. Festgekettet an die Mutter, denn der Vater hat seine neue Frau, samt gemeinsamen Kind auch schon im Hotel mit untergebracht. Die beiden jungen Männer malen sich ihre Zukunft fern des Vaters rosig aus, kommen aber nicht gegen den Patriarch an.
Die Bewunderung, die er einst für ihn empfunden hatte – eine andere Art von Liebe hatte der Alte nie erlaubt – war längst nicht mehr da. Mag sein, dass ein Kind sich noch von der Stärke blenden lässt, aber ein junger Mensch nicht mehr.
Das Buch spielt übrigens in Kolumbien. Ein Land, das ich vor allem mit Drogenkartellen in Verbindung bringe. Es gefiel mir sehr gut zu erkennen, dass es dort auch ganz normale Menschen mit alltäglichen Problemen, Familienstreit und Urlaubssuchende gibt. Die Landschaft muss wunderschön sein!
Alles ist im Umbruch, ein Generationenwechsel steht eigentlich an, aber die Jungen schaffen es nicht sich durchzusetzen. Der Vater ist gewaltig. Körperlich zwar schon vom Alter gekennzeichnet (dafür aber noch sehr fit!), da kann er gegen seine Jungs nicht mehr an, aber durch seine Gewalttätigkeit und seine ausgeübte Macht und Präsenz herrscht er über alles. Seine Söhne, seine Frauen, sein Hotel, seine Gäste, das Meer. Doch:
Genau diese Anmaßung, dass man das Meer kennt, hat zu Katastrophen geführt, seitdem es das Meer gibt.
Und genau diese Katastrophe kommt nicht. Und das ist das, was mir bei dem Buch fehlte. Ich erwartete den tragischen Ausgang. Ein Sturm kam auf und wirbelte alles durcheinander, barg Möglichkeiten die nicht ergriffen wurden.
Doch sind nicht doch die Brüder die Stärkeren, weil sie eben nicht der Versuchung nachgegeben haben? Das Meer bietet den Brüdern eine Möglichkeit, die sie nicht ergreifen. Alles wie bei einem klassischen Drama angelegt, ist danach eigentlich alles wieder beim alten. Obwohl vieles möglich gewesen wäre. Ich habe immer auf das dicke Ende gewartet, aber der Sturm zieht vorbei und alles geht seinen alten Gang. Damit hat mich der Autor sehr überrascht. Die Probleme Einzelner haben eben keine Auswirkung auf den Gang der Welt und der Gezeiten. Auch wenn das Schlimmste passiert wäre, hätte das Meer selbst keine Veränderung dadurch erfahren. Auch der Vater erfährt keine Veränderung. Er ergreift diese Chance auf seine Söhne stolz zu sein und sich ihrer Loyalität zu erfreuen, nicht.
Der Originaltitel des Buches lautet „Temporal“. Eine mögliche Übersetzung dieses spanischen Begriffes ist „vergänglich“. Im Vergleich zwischen den Schicksalen der Protagonisten und dem Meer wird der Unterschied zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit sehr klar.
Sprachlich fand ich diesen Roman sehr gelungen. Die Perspektivwechsel und die immer mitlaufende Timeline machten das Buch für mich sehr spannend. Denn auch an Land spielten sich Dramen ab, die beinahe tödlich endeten. Auch die Sprache geht mit der Handlung und dem Sturm, beziehungsweise der Ruhe danach und davor, wunderbar mit. Sehr eindrucksvoll fand ich die Beschreibungen während des erfolgreichen Hochseeangelns. Die unausgesprochenen Wettbewerbe, die Köder, die toten und halbtoten zuckenden Fische. Für mich wäre das nichts, aber mein Kopfkino wurde wirkungsvoll gefüttert.
Und so findet alles wieder seinen alten Gang, als ob diese 24 Stunden nicht passiert wären, wie auch die beiden letzten Sätze des Buches verraten:
Es gab fast keine Spuren mehr von den Wogen chaotischen Unrats, den die Flut jüngst auf den Strand gespült hatte. Wie alles auf dieser Welt sind auch die Tropengewitter flüchtig in ihrer Ewigkeit.
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Tomás Gonzáles: Was das Meer ihnen vorschlug,
Roman, in einer Übersetzung aus dem Spanischen
von Rainer Schultze-Kraft und Peter Schultze Kraft,
mareverlag, ISBN 978-3-86648-224-1,
160 Seiten, [D] 18,00 €