Dana von Suffrin: Otto
Mittwoch, 11. September 2019
2 Blogger, 1 Buch über eine jüdische Familie in Deutschland
Otto ist schon alt und ziemlich krank. Seine beiden Töchter Babi und Timna kümmern sich sehr gut um ihn. Jeden Tag bekommt er Besuch von Ihnen, ob er im Koma liegt, im Krankenhaus ist oder Zuhause. Denn in einer jüdischen Familie unterstützt man sich gegenseitig und ist immer füreinander da. Vielleicht im Fall von Otto etwas einseitig, denn es wird nicht ganz klar, wie er seine Töchter unterstützt.
Wir haben dieses Buch parallel gelesen und besprechen es in diesem Artikel gemeinsam.
Der Roman erzählt Ottos Lebensgeschichte und auch die seiner Familie. Er stammt aus Siebenbürgen und legt das dort gebräuchliche, umständlich anmutende Deutsch bis zum Ende nicht ab. Otto lebt sehr sparsam, eigentlich geizig und kauft von allem nur das billigste und lehnt auch die Ausgabe für eine Pflegekraft ab, obwohl er genügend Geld dafür hat und sie nur ein lächerlich geringes Gehalt bekommen.
Das hört sich nach einer Tragödie an, doch ist das Buch auch recht witzig, was vor allem am jüdischen Humor liegt, der aus jeder Seite quillt. Für manche mag das bösartig klingen, doch dieser schwarze Humor ist uns auch schon in anderen Büchern und Filmen über jüdische Familien aufgefallen. Alle Familienmitglieder ziehen übereinander her und stehen doch eng zusammen. Außer man hat sich total überworfen, wie das auch hier bei einigen Verwandten der Fall ist.
Otto
Hier ein Zitat aus dem Buch, das Otto ganz gut beschreibt:
Otto, Ingenieur, gebürtig in Rumänien, Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter, war schon eine Heimsuchung, bevor er ins Krankenhaus kam. Als er entlassen wurde, geschah, was niemand für möglich gehalten hatte: Es wurde noch viel schlimmer.
Silvia: Otto ist ein richtiger Geizhals. Von allem muss es immer das Billigste sein. Meine Eltern sind auch eher sparsam (aber kein Vergleich zu Otto). Glaubst du, dass das eine Generationenfrage ist?
Astrid: Ja, teilweise schon! Aber verallgemeinern sollte man das nicht! Mein Vater war teilweise auch wie Otto. Da gibt es eine nette Geschichte, die leider aber zu privat für diesen Blog ist.
Timna
Silvia: Timna hat ihren Freund im Krankenhaus kennengelernt. Ich will, auch wenn ich nur jemanden besuche, immer sofort wieder dort raus. Hast du schon mal jemanden in einer Klinik kennengelernt?
Astrid: Ja, ich habe sogar schon im Krankenhaus nette Begegnungen gehabt. In der Notaufnahme musste ich mal sehr lange auf eine Freundin warten, die sich den Fuß verletzt hatte. Zwei Bundeswehr-Sanitäter mussten auch auf jemanden warten. Wir unterhielten uns total nett, sind dann zwischendurch mal in eine Kneipe und tauschten später Adressen aus. Wiedergesehen haben wir uns natürlich nicht mehr, aber so habe ich diesen Abend eigentlich als sehr nett in Erinnerung – im Gegensatz zu der Freundin, die mit Gips nach Hause ging.
Religion
Silvia: Otto und seine Familie sind nicht besonders religiös. Trotzdem bezeichnen sie sich als Juden. Ich frage mich immer warum die religiöse Zugehörigkeit so wichtig ist. Hast du eine Idee?
Astrid: Ich bin auch nicht besonders religiös, bezeichne mich aber trotzdem als Christin, feiere Weihnachten und Ostern. Vielleicht ist das bei den Juden gar nicht so viel anders als bei uns.
Silvia: Im Buch steht, dass Ostjuden ständig ein schlechtes Gewissen haben. So hebt Timna häufig Regenwürmer vom Radweg auf. Das habe ich auch, weil ich als kleines Kind die Würmchen in die Pfützen gelegt habe, weil ich dachte sie bräuchten das Wasser… Hast du auch einen Punkt mit tief verwurzeltem schlechtem Gewissen?
Astrid: Diese Regenwurmgeschichte ist tief in uns allen verwurzelt, fürchte ich! Irgendwie haben wir alle den gleichen Fehler gemacht. Da habe ich in der Tat ein sehr schlechtes Gewissen!
Humor
Silvia: Und ich dachte ich wäre die einzige Regenwurmretterin der Welt. In diesem Buch wird auch der Umgang mit Religion und der deutsch-jüdischen Geschichte mit Humor begegnet, wie zum Beispiel dieser Satz zeigt:
Dann kamen die Jahre nach 1941 in denen Gott nahm und die Juden wie Gänseblümchen von der Erdoberfläche pflückte.
Silvia: Ich könnte fast weinen bei dieser Beschreibung des Holocaust. Obwohl sich die Geschichte des Buches um Krankheit und Tod rankt empfand ich es nie als bedrückend, eher erheiternd. Wie waren deine Empfindungen?
Astrid: Ja, das habe ich auch so empfunden. Es hätte ein tieftrauriges Buch werden können. Aber durch den Humor und die lockere Sprache konnte gar keine Trauer aufkommen.
Chronik
Silvia: Otto bittet seine Töchter seine Erinnerungen und Geschichten aufzuschreiben, damit die Familiengeschichte nicht vergessen wird. Das habe ich mir auch schon oft überlegt, aber niemals in die Tat umgesetzt. Gibt es in deiner Familie Chronisten?
Astrid: Nein, leider nicht! Dabei hätten alle so viel zu erzählen gehabt. Ich habe es mal mit diesen Büchern versucht, in die man selbst reinschreiben kann. Ich habe sie ihnen geschenkt, aber bisher habe ich kein beschriebenes zurückbekommen. Echt schade! In meiner Schwiegerfamilie gibt es einen Onkel, der sein Leben selbst aufgeschrieben hat und ich habe es so gerne gelesen. Ich werde es sehr in Ehren halten.
Silvia: Das ist wirklich eine tolle Sache. Meine Mutter hat mir mal ein Bild mit den Familienstammbäumen gemacht, so weit sie das rekonstruieren konnte. Dort schaue ich oft hinein. Vielleicht sollten wir mal was für unsere Kinder aufschreiben, denn sie können vieles gar nicht richtig einordnen.
Die Leute früher hatten viele Sorgen, viele Kinder und kein Internet.
Silvia: Ein Leben ohne Internet ist für unsere Kinder (wahrscheinlich inzwischen auch für uns) unvorstellbar. Meine Tochter hatte mich mal gefragt, ob ich als Kind schon Wasserspülung an der Toilette hatte. Kennst du auch solche Fragen?
Astrid: Klar! Gab es schon Flugzeuge als du klein warst? Ach, wie ich diese Kindersprüche vermisse!
Pflege
Silvia: Du hast recht. Ob sich unsere Kinder mal um uns kümmern werden? Otto kann irgendwann den Alltag nicht mehr alleine bewältigen. Da organisiert Timna osteuropäische Pflegerinnen für ihn. Immer ein schwieriges Thema. Deutsche Fachkräfte sind nicht bezahlbare, diese Frauen werden ausgenutzt und sind trotzdem von dem Geld abhängig. Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob das eine Lösung für später ist, wenn wir uns nicht mehr selbst versorgen können?
Astrid: Nein, nicht wirklich! Bei uns in der Familie gibt es aber einen Running Gag zu dem Thema. Wir haben unseren Kindern nämlich folgendes eingebläut: Papa will im Alter nach Thailand, Mama ins Altersheim an die Elbe!
Zitate
Astrid: Mein Lieblingszitat ist folgendes:
Das ist das Traurige der Welt, die Momente halten nicht, und auch die schönen vergessen wir; und selbst wenn nicht, irgendwann nehmen wir sie mit, und sie lösen sich auf mit uns
Hast du auch eins?
Silvia: Der Satz wunderschön. Ich habe noch eines markiert, dass ein wenig die fatalistische Lebenseinstellung von jüdischen Familien zeigt, so wie ich sie auch schon in anderen Büchern wahrgenommen habe
Das Leben war schwer, und man dachte, es würde immer so weitergehen: Manche werden geboren, sagte mein Vater, manche werden krank, manche haben Erfolg, manche nicht, manche heiraten, und manchmal bringen einen die Christen um, so lief das Leben.
Fazit
Astrid: „Otto“ motiviert, sich mehr mit seiner Familie und den Familiengeschichten auseinander zu setzen, sie vielleicht auch aufzuschreiben.
Silvia: Eine Hommage an Familie und die Aufforderung sich solange mit den älteren Menschen der eigenen Sippschaft zu unterhalten, solange sie noch leben. Denn sie haben Wundersames zu erzählen.
Linkparty
Wir nehmen mit diesem Beitrag an der Linkparty von Monerls bunte Welt teil. Dort sind noch andere spannende Rezensionen zu entdecken. Aus recht verschiedenen Genres!
Liebe Silvia, liebe Astrid,
ich habe eure Besprechung sehr gern gelesen; ein schönes Format!
Otto konnte mich leider nicht völlig überzeugen. Ich habe gelesen, dass Dana von Suffrin an eine jiddische Erzähltradition anknüpft, indem sie Humor mit den Schrecknissen des Holocaust verbindet und stand dem offen gegenüber. In der ersten Hälfte des Buches hat das meiner Meinung nach noch gut funktioniert, in der zweiten dann empfand ich es zunehmend als störend, ja fast als geschmacklos, wie beiläufig die Grausamkeiten eingeflochten wurden. Das Stilmittel hatte sich für mich beim Lesen verbraucht.
Insgesamt aber eine spannende Art, eine Familiengeschichte zu erzählen und Otto ist ein Charakter, den man so schnell nicht vergisst.
Viele Grüße
Jana
#litnetzwerk