Havarie
Donnerstag, 22. Oktober 2015
Mehr als ein Kriminalroman!
Schauplatz: das Mittelmeer zwischen der spanischen und afrikanischen Küste.
In einem kleinen Schlauchboot macht sich eine Gruppe Flüchtlinge auf den Weg nach Spanien.
Ein riesiges Kreuzfahrtschiff, die „Spirit of Europe“, ist auf dem Weg nach Mallorca.
Ein verhältnismäßig kleiner Frachter, die „Siobhan“, will den Hafen von Oran verlassen.
Außerdem gibt es noch ein Fischerboot, dessen Besitzer eine Leiche entdeckt und ein Seenotrettungskreuzer, der in Cartagena stationiert ist.
In schnell wechselnden Szenen lernen wir viele Menschen auf diesen verschiedenen Schiffen kennen. Die Autorin schafft es in dieser Handlung, die sich über 48 Stunden erstreckt, verschiedenste Alltagsprobleme, Schicksale und Träume zu vereinen.
Kreuzfahrt
Den meisten Platz im Buchnimmt die Handlung auf dem Kreuzfahrtschiff ein.
Anfangs wird das Leben dort vom ersten Offizier, dessen Frau auch auf dem Schiff arbeitet. folgendermaßen beschrieben:
Eine Kleinstadt, in der Leute aus mehr als fünfzig Nationen friedlich zusammenleben. Jeden Abend Party. Welches Zuhause wo auf der Welt kann da mithalten? Genau, keins.
Wegen starker Neigung zur Seekrankheit wollte ich noch nie wirklich eine Kreuzfahrt machen. Nach der Lektüre dieses Buches ist klar: da fahre ich nie mit! Vielleicht sind die Zustände für die dort arbeitenden Menschen nicht überall so katastrophal, die Chefs nicht ganz so gewinnorientiert, die Security nicht ganz so skrupellos und die Passagiere nicht so sensationslüstern und gleichzeitig gleichgültig gegenüber anderen Menschen wie auf diesem Schiff. Aber wie könnte ich mir dessen sicher sein?
Nur ein paar Seiten später liest sich das Empfinden desselben Protagonisten anders. Er ist dort, wo gearbeitet wird, wo kein Passagier je hinkommt und beschreibt seine Empfindungen so:
Die globale Arbeiterklasse rennt wie gejagt auf den letzten Drücker zum Einsatz. Keiner, nicht mal dein bester Freund, lächelt dir zu. Die Gesichtsmuskulatur hat frei. Dieses ganze verlogene Display von Freundlichkeit, die Angst vor den Kameras im Nacken, ist hier nicht drin. Hier sieht man Stress, Anspannung, Ringe unter den Augen.
Flüchtlinge
Über die verschiedenen Schicksale von Flüchtlingen und ihre Wege nach Europa steht momentan genug in der Tagespresse. Dieses Thema muss ich hier nicht auch noch breittreten. Aber das Aufeinanderprallen einer winzigen Nussschale von Boot (dem der Sprit ausgegangen ist) und dem riesigen Schiff und der Passagiere dort veranschaulicht die Unterschiede auf krasse Art:
Wer will die schon hierhaben? Sollen doch ihre eigenen Leute kommen und sie rausfischen.
Wie eine Herde drängen sie [die Passagiere] nach vorn, während die erste Reihe sich sattgesehen hat und den Rückzug antritt. Die Spanne ist kurz: Vielleicht dreißig Sekunden starren sie durchschnittlich auf das Schlauchboot da draußen. Delfine halten gewöhnlich länger…
Die Havarie des Schlauchbootes direkt vor dem Kreuzfahrtriesen, der, dem Seerecht entsprechend, alle Maschinen stoppt, ist der Kern der Geschichte.
Favorit
Meine Lieblingsperson in diesem Buch ist übrigens Sybille Malinowski. Ebenfalls Passagierin auf der „Spirit of Europe“. Auch sie ist schon geflohen. Aus Deutschland heraus. Beinahe hätte sie einen Platz auf der letzten Fahrt der „Gustloff“ bekommen…
Aufmachung
Schwarz ist die beherrschende Farbe. Umschlag, Einband und die ersten Innenseiten sind ganz in Schwarz gehalten. Wie die Nacht. Die Dunkelheit des unbeleuchteten Meeres.
Fazit
Das einzige was man diesem Buch vielleicht vorwerfen kann, ist das es sehr viele Themen anspricht.
Flüchtlinge, Ausbeutung, Gesundheitssysteme, Ökologie, Konflikte in der Ukraine und in verschiedenen afrikanischen Staaten, Gewinnsucht, Alkoholismus, Nepal-Konflikt, Kolonialmächte, Europa, Irlandkonflikt, Islamisten, Liebe, Familienstreitigkeiten, Umgang mit Behinderten…
In diesem temporeichen Roman wird nichts davon vertieft, durch den ständigen Perspektivwechsel wird alles nur kurz angerissen. Aber das ist auch die Stärke dieses Buches. Die heutigen Probleme sind global und miteinander verwoben. Eine Lösung bietet dieses Buch bewusst nicht, aber es zeigt: allein dadurch, dass alle auf demselben Planeten wohnen, sind wir auch von den Problemen der Anderen betroffen.
Dieses Buch würde ich nicht in die Krimiecke stellen, auch wenn es als solcher vermarktet wird. Es ist ein gesellschaftskritischer Roman.
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Merle Kröger: Havarie, Ariadne Kriminalroman aus dem Argument Verlag, ISBN 978-3-86754-224-1, 240 Seiten, 15,00 € [D]
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Und nun gelesen!
Ich werde weiterhin Fotos von Kreuzfahrtschiffen machen, aber bestimmt ab jetzt mit einem mulmigen Gefühl.
Auch ich habe noch nie wirklich von einer Kreuzfahrt geträumt, diese Hotelburgen auf dem Wasser und die vielen Menschen, die die kleinen Hafenstädte für ein paar Stunden überschwemmen.
Ich kann nur hoffen, dass die Autorin übertrieben hat, was das Leben auf dem Schiff angeht. Nur leider glaube ich jedes Wort.
Ein Buch mit sehr viel Inhalt und sicher kein Krimi, auch wenn es ein spannendes Buch.
Danke für die Rezi, ich hätte dieses schwarze Buch ohne Dich nie und nimmer in die Hand genommen, geschweige denn, gelesen.