Katharina Mevissen: Ich kann dich hören
Mittwoch, 25. Dezember 2019
Rezension Debütroman
Osman ist Cellist, noch im Musikstudium. Er sollte sich auf die nächste Prüfung vorbereiten, doch ein Anruf seiner Tante durchkreuzt seine Pläne. Ein weiterer Debütroman, der es für den Bloggerpreis von Das Debüt auf die Shortlist geschafft hat. Da Musik in diesem Buch eine große Rolle spielt, stand es sowieso auf meiner Wunschliste.
Osman
Osman begann mit musizieren, als er vier Jahre alt war. Musik stand immer vor allem anderen, knapp gefolgt von Fußball. Er ist talentiert, kein Wunder, denn seine Eltern sind auch Musiker. Allerdings kennt er seine Mutter nicht. Sie verließ die Familie, als er noch recht klein war. Osman hütet die schemenhaften Erinnerungen an sie wie ein Schatz. Aufgezogen wurde er von seiner Tante Elide. Zu seinem Vater, Violinist, hat er keine gute Beziehung. Deshalb studiert er in Hamburg, wagte dort einen Neuanfang. Das klappte auch gut, bis seine Tante Elide ihn um Hilfe bittet: sein Vater hat sich das Handgelenk gebrochen.
Außerdem ist da noch Louise, seine Mitbewohnerin in der WG. Sie fängt an, sich auch für Osman zu interessieren, als er wegen Familienproblemen in der Krise steckt. Osman kann sich ihr nicht mitteilen.
Elide
Sie ist meine Lieblingsperson im Buch. Sie hat, nachdem ihre Schwägerin die Familie mit zwei kleinen Jungs (Osman und seinen Bruder) verließ, alles aufgegeben, um zu helfen. Ihr Studium in Paris musste sie dafür abbrechen. Statt an der Seine zu leben, zieht sie in eine Dreizimmerwohnung und kümmert sich um alles, während ihr Bruder seine Musikerkarriere vorantreibt. Sie ist den Jungs eine gute Ersatzmutter. Doch ihre eigenen Träume, oder auch eigene Kinder: das konnte sie nicht verwirklichen. Doch im Laufe des Buches macht sie eine riesige Entwicklung durch. Sie verändert ihr gesamtes Leben! Ich war voller Sympathie und Bewunderung für diese Frau. Einige Passagen sind aus ihrer Sicht geschrieben. Nicht so einfach zu lesen, weil ihr deutsch nicht perfekt ist und sie im Laufe der Handlung es immer mehr zu verlernen scheint und ins Türkische fällt.
Wie in manchen Momenten die deutschen Wörter aus meinem Kopf verschwinden, einfach weg sind, obwohl ich dachte, sie gehören mir schon lange.
S. 50
Geheimnisse
Osman muss für einen Umzug die Unterlagen des Vaters in Kartons packen. Dabei fallen ihm ein paar Fotos in die Hände. Bilder von seiner Mutter. Irgendwann werden ihm die Umstände klar, unter denen diese Bilder gemacht wurden. Er kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur und schafft es endlich, den Vater zur Rede zu stellen. In diesem Gespräch werden einerseits die Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn deutlich, andererseits auch die Fähigkeit Osmans sich endgültig vom Vorbild seines Vaters zu lösen. Starke Szene.
Musik
Klassische Musik nimmt einen gewissen Raum in diesem Roman ein. Nicht so viel wie ich erwartet habe nach dem Klappentext, doch sie ist für mich im Buch allgegenwärtig. Folgendes Zitat könnte auch mich beim Besuch eines Klavierkonzerts beschreiben
In ein paar Minuten werden sich die ersten Leute wieder trauen, die Augen zu schließen und zu träumen, weil Musik zaubern kann und nur leise, schöne Schmerzen bereitet.
S. 45
Tonaufnahme
Am Bahnhof findet Osman ein Diktiergerät, es trägt ein Label der Uni, er steckt es ein. Irgendwann wird er neugierig und hört hinein. Eine andere Studentin hat es sich für Interviews ausgeliehen. Doch da ist noch mehr auf dem Tonträger. Geheimnisvolles, sehr Persönliches. Osman würde die Sprecherin gerne kennenlernen. Diese Sache mit den Tonaufnahmen fand ich sehr gelungen. Erst hören wir sie mit Osman an, später erfahren wir durch die Sprecherin Ella, in welchen Situationen die einzelnen Passagen aufgenommen wurden. Ein Auszug aus der Beschreibung eines der aufgenommenen Tracks, hier wird Meeresbrandung beschrieben:
Von dem großen, gewaltigem Meerton splittern feine, rieselnde, klickende Töne ab. Wie die Salzkristalle, die zurückbleiben, wenn sich das Wasser zurückzieht. Salzige, körnige Töne, die auf der Haut eintrocknen und ein leichtes Jucken verursachen.
S. 62
Sprache
Für ist es ein Buch über Sprache, Sprachlosigkeit, Geräusche als Sprache, Die Unfähigkeit zu hören, gute und schlechte Kommunikation, unabhängig vom benutzten Mittel.
Ellas gehörlose Schwester, die ein Implantat ablehnt, weil sie ihre Persönlichkeit nicht verändern möchte. Die Tante, die Deutsch verlernt, weil sie sich in Gedanken schon von diesem Land verabschiedet hat.
Die Geräusche des Aufnahmegeräts, die viel über Ella und ihre Situation aussagen.
Und natürlich die Sprache der Musik, die Osman die Möglichkeit gibt sich auszudrücken, seinen Schmerz herauszulassen, indem er komponiert.
Schön auch, mit welchen Geräuschen der Musikprofessor die gewünschte Interpretation eines Stückes vergleicht.
Auch Ella, in klassischer Musik so gar nicht bewandert, gelingt es am Ende die gehörten Töne in Worte zu fassen, so dass ich das Gefühl habe diese Musik auch gehört zu haben.
Es gibt übrigens auch eine Playlist zum Buch, der Link dazu ist im Anhang abgedruckt.
Bloggerpeis
Dieser Roman steht auf der Shortlist des Bloggerpreises für das beste Debüt des Jahres 2019, der vom Blog das Debüt ausgelobt wird. Die Jury, zu der auch ich gehöre, besteht aus freiwilligen Literaturbloggern. Folgende Romane stehen ebenfalls auf der Shortlist:
Angela Lehner: Vater unser
Martin Peichl: Wie man Dinge repariert
Nadine Schneider: Drei Kilometer
Ana Marwan – Der Kreis des Weberknechts