Mauerfall – Interview mit Kathrin Wildenberger
Donnerstag, 9. November 2017
Am 09.11.1989 fiel die Mauer die Deutschland teilte
Dieses Jahr war ich seit langer Zeit mal wieder in Berlin. Dort haben wir uns viel mit der Mauer beschäftigt. East-Side-Gallery, Gedenkstätte, Tränenpalast. Meine Kinder kennen Deutschland nur als ein einziges Land. Das ist gut so. Doch auch die neuen Generationen sollten die Vergangenheit kennen und daraus lernen. 9. November ist der Jahrestag des Mauerfalls. Ein Buch, dass die Zeit kurz vor und kurz nach dieser Veränderung am Leben eines Teenagers zeigt, ist Montagsnächte von Kathrin Wildenberger. Anlässlich des heutigen Datums führte ich ein Interview mit ihr.
Ania
Silvia: Dies wirst du sicher immer gefragt: Wieviel Kathrin steckt in Ania, der Hauptperson in Montagsnächte?
Kathrin: Ja, Du hast Recht, liebe Silvia, es ist sehr oft die erste Frage, die mir gestellt wird. Vielleicht steckt in Ania weniger von mir, als es den Anschein hat. Sicherlich ist eine Protagonistin der Schreiberin immer nah, und im Laufe des Schreibprozesses geschieht es häufig, dass meine Hauptfigur erstmal in meinem Sinne denkt, fühlt und handelt. Aber ich habe Ania auch ganz bewusst Eigenschaften gegeben, die mir fehlen und die ich selbst gerne hätte. Das ist die Freiheit, die ich als Autorin habe. Zum Beispiel habe ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht, lange, rote Haare zu haben und wunderbar tanzen zu können. Bewundernswert an Ania ist auch ihre Empathie und ihre Bereitschaft, stets und ständig anderen zu helfen.
Montagsnächte
Silvia: Besonders gut gefiel mir die Beschreibung der Stimmung in der Nikolaikirche. Hast du eine dieser Montagsnächte selbst erlebt?
Kathrin: Nein, und das finde ich sehr schade. Ich habe im Herbst 1989 in Halle/Saale gelebt, und es hat sich für mich nicht ergeben, zu den Friedensgebeten und den Montags-Demos in Leipzig zu fahren. Es gab niemanden, der mich mitgenommen hätte, und ich war damals noch nicht so weit, für mich selbst diese Entscheidung zu treffen. Ehrlich gesagt, habe ich mich zu sehr gefürchtet. Wir alle, ich denke, das kann ich so sagen, waren in dieser Zeit voller Hoffnung aber auch voller Angst. Niemand wusste, was am nächsten Tag, manchmal sogar in der nächsten Stunde passiert. Und die Stimmung vor der entscheidenden Demonstration am 9. Oktober 1989 war besonders bedrohlich. In Halle/Saale zum Beispiel haben an diesem Montagnachmittag Polizisten den Bahnhof abgesperrt, die Personalausweise kontrolliert und nur diejenigen zu den Zügen nach Leipzig durchgelassen, die sich als Leipziger ausweisen konnten. Ich hätte mir in diesen aufreibenden Stunden nicht träumen lassen, dass ein paar Wochen später die Mauer fallen könnte und wir ein Jahr später ein wiedervereinigtes Deutschland haben würden. All das war für mich und sicherlich auch für viele andere damals unvorstellbar.

Bundesarchiv Bild aus Leipzig während einer Montagsdemonstration
Ich denke, dass es für das Schreiben der Montagsnächte wichtig war, diese emotional so bewegenden und intensiven Stunden miterlebt zu haben. Alles andere habe ich recherchiert, in Gesprächen mit Menschen, die dabei waren und natürlich auch in Archiven und Bibliotheken, unter anderem im Archiv Bürgerbewegung hier in Leipzig, wo man viele Originaldokumente aus dieser Zeit finden kann. Aber ich habe auch einige Stunden in der Nikolaikirche verbracht und der Stimmung der Montagsnächte nachgespürt, sie ist meine Lieblingskirche in Leipzig.
Normalität
Silvia: Ich habe mir vor deinem Buch noch nie Gedanken über den Erhalt bestimmter Einrichtungen gemacht, als die Mauer geöffnet wurde und zahlreiche Menschen erst mal in den Westen fuhren. Du bringst im Buch das Beispiel Krankenhaus, ich denke auch an Feuerwehr, Altenheime, Müllabfuhr… Wie lange dauerte es, bis alles wieder normal laufen konnte?
Kathrin: Das hat lange gedauert. Die Abwanderung in den Westen ging ja erstmal weiter, auch noch einige Jahre nach der Wiedervereinigung. Einige Freunde von mir haben zum Beispiel als ungelernte Pflegekräfte noch bis weit in die 1990er Jahre in den Krankenhäusern gearbeitet, um sich Geld fürs Studium zu verdienen. Die Situation dort entspannte sich etwas, als es im Frühjahr 1990 möglich wurde, anstatt des Wehrdienstes in der NVA Zivildienst in den Krankenhäusern und Altenheimen zu leisten. Aber dass so viele Menschen plötzlich nicht mehr da waren, von einem Tag auf den anderen nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz erschienen sind und es große Mühe kostete, das öffentliche Leben überhaupt aufrecht zu erhalten – das war ein großer Einschnitt, das hat lange nachgewirkt. Vielleicht ist es bis heute zu spüren.

Kathrin Wildenberger liest, Bildrechte bei Jürgen Volk
Trilogie
Silvia: War der Roman direkt als Teil einer Trilogie geplant?
Kathrin: Anfangs nicht. Die Idee, die Geschichte von Ania und ihren Freunden weiter zu erzählen, hatte ich erst, als nach dem ersten Erscheinen der Montagsnächte 2007 viele Leser von mir wissen wollten, wie die Geschichte denn weitergeht und direkt fragten: Gibt es eine Fortsetzung? Für mich war das Projekt eigentlich beendet, ich hatte Lust auf Neues. Aber schließlich habe ich mich selbst dabei ertappt, wie ich die Geschichte im Kopf weitergesponnen habe, und es hat mich beschäftigt, wie es mit den Figuren weitergeht, wie es ihnen 1990 und dann nach all den Umbrüchen gehen mag.
Silvia: Praktisch ein Buch auf Bestellung deiner Leser. Wie schön! Der 2. Band „ZwischenLand“ soll im März 2018 erscheinen. Welches Hauptthema behandelt dieses Buch?
Kathrin: Das Zwischenleben im ZwischenLand. ZwischenLand steht dabei für die Zeit zwischen der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland. Ania und ihre Freunde verleben den Sommer 1990 in einem besetzten Haus in Leipzig Connewitz, sie haben plötzlich ganz viele Möglichkeiten, aber sie haben auch einige Abschiede hinter sich und zum Teil den Boden unter den Füßen verloren. Ania lebt mit ihren zwei Mitbewohnern eine offene Beziehung. Ihre jüngere Schwester Brit geht nicht mehr zur Schule. Und Anias Freundin Suse entscheidet sich dafür, ihr behagliches neues Leben in einem Dorf in Nordwestdeutschland aufzugeben und ihren Traum von einem eigenen Laden zu leben.
Alles scheint möglich, alles ist ungewiss, und die plötzliche Freiheit ist so verheißungsvoll wie beängstigend. Auch in dem eigentlich so freien Zusammenleben in Connewitz wird nicht immer mit offenen Karten gespielt, und die Bewohner fühlen sich von Neonazis bedroht, die in Banden durch die Straßen ziehen und die besetzten Häuser überfallen.
Jahrestage
Silvia: Ich sehr gespannt wie es mit Ania und ihren Freunden im Detail weitergeht. Diese Jahrestage, Tag der deutschen Einheit, Mauerfall: welche Bedeutung haben sie für dich?
Kathrin: Sie sind Tage der Dankbarkeit, der Freude, aber auch des Innehaltens, des Nachdenkens über das, was seitdem geschehen ist, in der Welt, in meinem Leben und im Leben meiner Freunde und meiner Familie. Ich bin dankbar für die Jahre, die ich in der DDR erlebt habe, es sind Erfahrungen, die mir niemand nehmen kann. Und dass der Fall der Mauer für mich zum denkbar besten Zeitpunkt kam, ich war damals 18, das war Zufall und ein großes Glück.
Die Umbruchzeit 1990 war allerdings auch für mich schwierig, es gab eine große Orientierungslosigkeit, viele Ängste, viele Abschiede. Alles hat Zeit gebraucht, wir alle haben Zeit gebraucht, und niemand von uns konnte in diesen Tagen und Wochen wissen, wie lange diese Zwischenzeit andauern würde. Ich hatte ja, wie gesagt, großes Glück, aber wie wir alle wissen, ist die Aufarbeitung und das Reflektieren über diese Zeit noch längst nicht abgeschlossen.

Die East Side Gallery ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Mauer in Berlin
Unterschiede?
Silvia: Wir sind nur ein paar Jahre auseinander. Dein Buch hat mir klargemacht wie ähnlich unser Leben einerseits (ich denke da an Musik, Feten, erste Liebe) und unterschiedlich andererseits waren. Glaubst du die heute 18jährigen spüren noch Unterschiede zwischen Ost und West?
Kathrin: Das ist sehr schön, wie Du das beschreibst. Ich glaube ganz fest daran, dass die Generation, die nach uns kommt, die erste sein wird, die diese Unterschiede nicht mehr direkt spürt. Ich erlebe das bei meinen Nichten, sie sind 12 und 17, sie kennen Deutschland nur als ein Land und die DDR- Zeit aus Büchern, Erzählungen der Eltern, Großeltern und Verwandten und dem Geschichtsunterricht. Auf den Lesungen, die ich an Schulen halte, muss ich die DDR Zeit als historisch erklären, so, wie unsere Lehrer uns damals den zweiten Weltkrieg erklärt haben. Das klappt über eine spannende Geschichte natürlich sehr viel besser als über trockene Zahlen und Fakten. Eine Freundin von mir schreibt Kinderbücher über das Alltagsleben in der DDR, auch hier ist es immer wieder überraschend, wie die Kinder auf diese Geschichten reagieren, was sie nicht wissen, was sie interessiert, wonach sie fragen.
Verdeutlichung
Silvia: Wir sind die Mauer ja zum Glück seit Jahrzehnten los. In Berlin habe ich nach Spuren gesucht und mich gefragt, wie ich das meinen Teenagertöchtern näherbringen könnte. Wie würdest du das angehen?
Kathrin: Ich glaube, ich würde mit den Mädchen durch die Stadt laufen und ihnen Geschichten erzählen. In Berlin spürt man, wenn man dafür offen ist, die DDR- Geschichte noch immer sehr stark. Ich denke da vor allem an den Bahnhof Friedrichstraße mit dem Tränenpalast oder an die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße und, natürlich, ans Brandenburger Tor, auch an die Stasi-Gedenkstätte in Berlin- Hohenschönhausen.
Vielleicht gab es in Eurer Familie oder im Freundeskreis jemanden, der damals für einen Tag von Westberlin aus über den Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin einreisen durfte und spätestens um Mitternacht wieder zurückmusste. Oder jemanden, der in Ost-Berlin in einem der verfallenen Häuser lebte, im Prenzlauer Berg vielleicht, sich zur Ausreise entschloss, einen Antrag gestellt hat und dann nach Jahren des Wartens ausreisen durfte, 24 Stunden Zeit hatte, das Land zu verlassen, alles zurück zu lassen, was ihm bisher Heimat war. Und natürlich gab es auch die Menschen, darunter viele junge Leute, die bei Fluchtversuchen an der Mauer erschossen wurden. Ihrer Geschichte kann man in der Gedenkstätte Berliner Mauer nahekommen.
Es sind Einzelschicksale, die uns berühren, in die vergangene Zeit mitnehmen, wo die Menschen ja genauso geliebt, gelitten und gelebt haben wie wir jetzt auch und eben doch von der Gesellschaft um sie herum geprägt wurden.
Kulleraugen
Silvia: Schön gesagt. Jetzt mal Themenwechsel mit der obligatorischen Keksfrage: Was sind deine Lieblingskekse? Gerne mit Rezept.
Kathrin: Das sind die Kulleraugen, die meine Mutter schon für meine Schwester und mich gebacken hat, als wir noch klein waren. Ein Rezept, das die Wende überdauert hat und jetzt sogar im Netz zu finden ist.
Silvia: Vielen Dank für das Rezept. Die Kulleraugen werde ich bei Gelegenheit mal austesten. Und vielen Dank für das Interview. Ich freue mich auf das neue Buch ZwischenLand und hoffe, dass wir mit diesem Beitrag ein paar Menschen zum Nachdenken gebracht haben.
Nähere Informationen gibt zum Beispiel die Webseite über die Gedenkstätte Berliner Mauer.
Weitere Beiträge zum Thema erscheinen heute bei Bücher, Kater, Tee und Angelika liest.
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Wir waren am Wochenende mit unseren (Wossi-)Kindern in Marienborn am ehemaligen Grenzübergang sowie anschließend noch in Hötensleben, wo man noch einen Grenzstreifen besichtigen kann.
Mein Mann ist als Jugendlicher mal nach Westberlin über die Transitstrecke gefahren. Für mich war „Transitautobahn“ als Kind ein geheimnisvolles Wort, das ich ebenso wenig Verstand wie „Valuta“.
Mir ist es wichtig, dass meine Kinder etwas über die Teilung wissen, auch wenn sie meine Kindheit nur noch im Museum sehen können.
Danke für den Buchtipp und das interessante Interview.
Liebe Grüße,
Mona
(zuerst versucht am 09.11.2017)
Liebe Mona,
den Begriff Wossi kannte ich noch nicht ;))
Es ist sicher wichtig diesen Teil der deutschen und somit unserer Geschichte weiterzugeben.
Die Kontrollen auf der Grenze waren für mich als Wessi äusserst spannend und auch sehr beängstigend.
Und zu Kindheit im Museum: im Tränenpalast habe ich auch einiges aus meiner Wessi-Kindheit wieder erkannt.
Viele liebe Grüße
Silvia