Rezension: Kriegslicht von Michael Ondaatje
Dienstag, 25. September 2018

Mischung aus Familienroman und Spionagegeschichte
Der neue Roman von Michael Ondaatje spielt in England, größtenteils in London, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Der Teenager Nathaniel und seine Schwester bekommen von den Eltern eröffnet, dass diese für ein Jahr nach Asien gehen. Die Kinder würden in London bleiben und von einem Freund der Familie betreut werden.
Angeblich hat der Vater eine sehr lukrative Stelle angeboten bekommen und seine Frau fährt zur Unterstützung mit. Der Vater verschwindet für immer, die Mutter verbirgt ein großes Geheimnis.
Jugend
Die zwei Kinder, oder vielmehr Jugendlichen, werden von zwei dubiosen Männern betreut, dem Falter, der mit im Haus wohnt und dem Boxer, der recht offen kriminellen Tätigkeiten nachgeht (Spitznamen spielen eine große Rolle im Buch).
Sie vermissen die Eltern erstaunlich wenig und führen ein recht freies Leben im Nachkriegslondon. Dabei lernen sie viele Menschen kennen, sehr interessante Frauen sind darunter. Sie gehören zu den wechselnden Frauenbekanntschaften des Boxers. Diese Frauen nehmen nicht unbedingt die Mutterrolle ein, geben den Kindern aber doch viel Halt.
Nathaniel, der Ich-Erzähler, beginnt den Boxer in die Halbwelt zu begleiten. Er fährt mit ihm per Boot durch die nächtliche Stadt und bringt Schmuggelware von einem Ort zum anderen.
Windhunde
So werden auch Windhunde geschmuggelt. Sie kommen ohne Papiere aus Frankreich, sind total verwirrt und werden zu Hunderennen gebracht. Diese flüchtigen Geschöpfe sind auf Nathaniels Pflege angewiesen, in der kurzen Zeit, die er sie betreut. Dabei kommt es auch zu meiner Lieblingsszene im Buch, in der Nathaniel und seine Freundin eine wilde Nacht mit einem Rudel Hunde in einem leerstehenden Haus verbringen. Auf der Lesung, die ich hier in Köln besuchen konnte, las Ulrich Noethen auch genau diese Stelle vor.
Ondaatje erzählte, als er zu diesen Windhunden befragt wurde, auch von denen Hunden von Freunden, die er sehr schätzen lernte. Er beschreibt sie als sehr besondere Tiere und ich denke, er wurde auch dadurch zu diesen Szenen inspiriert.

Rose oder Viola
Im Erwachsenenalter geht Nathaniel den Geheimnissen seiner Mutter nach. Sie ist inzwischen wieder zurück und wohnt in einem kleinen Ort unweit von London. Nach und nach erfährt er durch Akten, in die er Einsicht bekommt, was sie im und nach dem Krieg gemacht hat. Sie selbst verrät ihm kaum etwas. Doch schon früh wird klar, dass sie als Spionin arbeitete.
Rose, ihren richtigen Namen, tauschte sie gegen Viola, ihren Tarnnamen aus. Sie macht auf mich den Eindruck, dass sie zwischen ihren Identitäten nicht mehr unterscheiden kann. Wie auch, sie hat ja nur ein Leben, musste aber in viele Rollen schlüpfen.
Eine gewisse Zeit verbringen Viola und Nathaniel zusammen. Doch so richtig nahe kommen sie sich nicht mehr. Sie sagt ihm nur immer wieder:
„Meine Sünden sind vielfältig.“
Suche
Die Spurensuche Nathaniels liest sich sehr spannend. Er versucht die Lücken, für die er keine Unterlagen findet, durch Phantasie zu schließen. So entstehen Geschichten, die Ondaatje in diesem Buch mit unterbringt.
Dadurch wird das Leben der Mutter und auch die Beziehungen zu einigen anderen Personen, die die Kinder in der Zeit der Abwesenheit der Mutter kennenlernen, deutlicher. So erkennt Nathaniel sehr spät, dass die Mutter sie nie ganz aus den Augen gelassen hat. Oder zumindest über Dritte recht gut informiert war.
Trotzdem: kann eine Mutter ihre Kinder im Stich lassen um ihrem Land zu dienen? Welch schwere Konflikte muss sie mit sich herumgetragen haben.
Nathaniel kann sich der Geschichte seiner Mutter nur annähern, ganz wird er sie nie erfahren und verstehen.
„Wir kennen nur die Oberfläche irgendeiner Beziehung nach einer bestimmten Phase, so wie bei diesen Kreidegeschichten, entstanden aus den Ablagerungen winziger Geschöpfe, Schichten, die sich in endloser Zeit entwickeln.“
Lesung

Im September konnte ich eine Lesung mit Michael Ondaatje besuchen. Erst da wurde mir klar, dass er gar kein Niederländer, sondern Brite ist. Aufgrund des Nachnamens, hatte ich ihn gedanklich in unser Nachbarland gesteckt. Ich sollte mich wirklich besser informieren!
Der Abend wurde hervorragend von Julika Griem moderiert, die Ondaatje sehr eloquent Fragen zu seinem Werk stellte und gekonnt die Antworten zusammenfassend übersetzte.
Den deutschen Teil der Lesung übernahm Ulrich Noethen. Das war natürlich auch ein Highlight. Ein sehr gelungener Abend, an den ich noch häufig denken werde, Sein letztes Buch Katzentisch wurde häufig erwähnt, ich denke es wird Zeit dieses endlich aus meinem SUB zu befreien.
Fazit
Ich hole etwas aus: Als ich das erste Drittel des Buches gelesen hatte, war Lesekreisabend. Begeistert erzählte ich, dass Kriegslicht mir sehr gut gefallen würde. Doch dann kam die Frage nach dem Inhalt. Als ich das bisherige Geschehen kurz zusammenfasste merkte ich, wie seltsam sich das anhört. Zwei Jugendliche, die von ihren Eltern verlassen werden um in London von ein paar sehr zwielichtigen Gestalten betreut zu werden. Dann stünde im Klappentext noch was von Spionage. Ich schaute in sehr skeptische, ratlose Gesichter.
Doch dieses Buch, der Schreibstil, sog mich in diese abstrus klingende Geschichte hinein. Wunderschöne Passagen und Sätze hat das Buch zu bieten. Sehr gut gefiel mir auch die Art, wie im letzten Teil einige lose Fäden nochmal aufgenommen und verknüpft wurden. Die Bilder von den nächtlichen Themsefahrten, einigen beschriebenen Orten, und den Menschen in diesem Roman werde ich lange im Gedächtnis behalten. Ein literarisch hochwertiges Buch über Menschen, deren Beweggründe sich mir zwar nicht unbedingt erschlossen haben, die ich aber trotzdem gerne für die Länge dieses Buches begleitet habe. Mir wäre es sehr lieb gewesen, wenn Nathaniel einfach immer weiter erzählt hätte…

Liebe Silvia,
danke für diese Rezension. Durch dich (euch) werde ich immer wieder auf tolle Bücher aufmerksam.
Liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea,
Immer wieder gerne.
Dieses Buch gehört zu meinen Top-Five dieses Jahr.
Ich hoffe, dass es anderen auch so gut gefällt.
Liebe Grüße
Silvia